Ein silbrig-metallisch glänzender neuer Teekessel wird auf dem Herd von einer Gasflamme erhitzt, Wasserdampf entweicht und lässt die Flöte ertönen.
Diese Scope-1-Emissionen aus fossilem Erdgas ließen sich durch erneuerbare Energien vermeiden. (Foto: Andrej Kusmik/​Shutterstock)

Endlich beginnt sie, die Debatte um den Begriff "Klimaneutralität", der seit dem Paris-Vertrag von 2015 Schlüssel- und Leitbegriff der Klimapolitik ist. Wie häufig bei einem erschreckten Aufwachen nach der Devise "Oh, da hätte ich mich ja längst mal orientieren müssen!" stehen nun viele an den Wegweisern – und halten sie für einen fehlorientierenden Schilderwald. Zu vernehmen ist ein Schimpfen ob des Chaos, von fehlender Definition ist die Rede.

Auch Feindbilder werden bereits bemüht. Danach hätten sich dunkle Mächte des Begriffs bemächtigt, indem sie das angebliche definitorische Chaos nutzen, um hinter einem grünen Mäntelchen ihre in Wahrheit schmutzigen Geschäfte zu betreiben.

Wer von "Begriffschaos" spricht, läuft allerdings Gefahr, lediglich sein persönliches Unverständnis nach außen zu projizieren. So ist es gegenwärtig überwiegend, nach meiner Diagnose.

Für das verbreitete Unverständnis gibt es einen einfachen strukturellen Grund. "Klimaneutralität" ist ein Teekesselchen – es gibt zwei etablierte und verbindliche Definitionen, die völlig unabhängig voneinander sind.

Wer das nicht weiß und von "der" Definition von Klimaneutralität ausgeht, kann die unterschiedlichen Elemente in vorgefundenen Verwendungen nicht zuordnen und sieht wegen mangelnder Einheitlichkeit folglich Chaos. Deswegen hier noch einmal eine Einführung von den Grundlagen aus.

Klimaneutralität politisch: Emissionen aus einem Territorium

Ursache des menschengemachten Klimawandels ist der Anstieg der Treibhausgaskonzentration in der Erdatmosphäre. "Den Klimawandel stoppen" bedeutet somit, den Konzentrationsanstieg zu stoppen.

Das wird erreicht, wenn die menschengemachten Treibhausgasemissionen bei "netto null" liegen. Das "netto" soll sagen, dass alle nicht vermiedenen Emissionen ausgeglichen werden, indem der Atmosphäre an anderer Stelle Treibhausgase entzogen werden.

"Netto null" (net zero) ist die Sprechweise, die im englischen Sprachraum verbreitet ist. Im Klimarecht auf UN- und EU-Ebene ist der korrekte Begriff dafür "klimaneutral". Der deutsche Gesetzgeber hat sich im Bundes-Klimaschutzgesetz entschieden, dafür "treibhausgasneutral" zu sagen. Gemeint ist in allen drei Fällen dasselbe.

Diese Begrifflichkeit richtet sich an politische Instanzen. Die haben entschieden, ihre gemeinsame Aufgabe, die Treibhausgasemissionen in Richtung null zu fahren, unter sich nach dem Territorialprinzip aufzuteilen. Häufig geht es dabei um die Ebene der Staaten.

Porträtaufnahme von Hans-Jochen Luhmann.
Foto: Wuppertal Institut

Jochen Luhmann

studierte Mathematik, Volks­wirtschafts­lehre und Philosophie und promovierte in Gebäude­energie­ökonomie. Er war zehn Jahre als Chef­ökonom eines Ingenieur­unternehmens und 20 Jahre am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie tätig. Er ist Heraus­geber der Zeit­schrift Gaia und Vorstands­mitglied der Vereinigung Deutscher Wissen­schaftler.

Innerhalb der subglobalen Mehrebenensysteme, zum Beispiel der EU oder der USA, wird die Minderungsverpflichtung weiter territorial aufgeteilt und Ebene für Ebene nach unten weitergereicht.

Die Bundesebene in Deutschland hat bei sich gestoppt, aber auch sie hätte weiterreichen können, auf die Ebene der Bundesländer – und diese weiter auf Kommunen oder auch auf ihre "Einrichtungen", wie zum Beispiel Unternehmen mit staatlicher Mehrheitsbeteiligung.

Es geht dabei immer um Emissionen von einem Gebiet, einem "Territorium" aus. Emissionen aus Vorleistungen, beispielsweise von Strom oder Gas, die andernorts produziert und von dort bezogen werden, werden nicht angerechnet.

Klimaneutralität institutionell: Verantwortung für Vorleistungen

Das zweite Verständnis von "Klimaneutralität" richtet sich vor allem an "Institutionen". Dazu gehören Unternehmen, aber auch staatliche Einheiten, zum Beispiel Verwaltungen.

Inzwischen hat geradezu ein Wettlauf begonnen. Die UNO hatte sich vor einem Jahrzehnt an die Spitze gesetzt, hatte ihrem Umweltprogramm UNEP das Management übergeben. Seitdem wollen sämtliche UN-Organisationen klimaneutral werden, selbst die Luftfahrtorganisation ICAO. Aber auch viele Verwaltungen auf einzelstaatlicher Ebene wollen "klimaneutral" werden.

Vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit erhält, was auf der Ebene der deutschen Bundesregierung läuft. Deutschland hat mit dem erwähnten Bundes-Klimaschutzgesetz eine weltweit einzigartige begriffliche Entscheidung getroffen und macht das "Teekesselchen"-Spiel nicht mit. In Deutschland steht vielmehr "treibhausgasneutral" für die politische, die UN-kompatible Verständnisweise und "klimaneutral" für die institutionelle.

Paragraf 15 des Klimaschutzgesetzes legt fest, dass der Anteil der Aktivitäten des Bundes, der auf den Namen Verwaltung hört, "klimaneutral" zu werden hat, und das schon bis 2030.

In diesem Zusammenhang war Anfang Oktober 2019 entschieden worden, dass das Verteidigungsministerium schon 2023 klimaneutral sein soll und dafür eine Roadmap vorzulegen hat. Das Entwicklungsministerium hat ganz schnell gehandelt und bereits zum Ende desselben Monats Vollzug gemeldet.

Die restlichen Ministerien werden nun von der "Koordinierungsstelle Klimaneutrale Bundesverwaltung" an die Hand genommen, die im Umweltministerium angesiedelt ist. Ein erster Leitfaden liegt vor – bis 2023 soll ein Maßnahmenprogramm erarbeitet werden.

Sicher ist hier deutsche Wertarbeit zu erwarten, nur darf man dabei nicht übersehen, dass insbesondere das Militär, eine CO2-intensive Aktivität des Bundes, bei der lobenswerten Selbstverpflichtung außen vor geblieben ist.

Hier, beim institutionellen Verständnis von "Klimaneutralität", ist der Bezug zum Territorium aufgehoben. Hier geht es um den Gesamtumfang der Treibhausgasemissionen, für die man "verantwortlich" ist. Für verantwortlich halten kann man sich nicht allein für die Emissionen, die der eigenen Produktion entstammen, sondern auch für Emissionen aus der Vorleistung von Gütern, die man bezieht und "konsumiert" – Emissionen, die man in diesem erweiterten Sinn "verursacht".

Die Stufung dieser Vorleistungen geht freilich ins Unendliche. Da hat man pragmatisch zu entscheiden, bis zu welcher Vorleistungsebene man sich für verantwortlich halten will.

Zwei Definitionen – normiert, aber unvereinbar?

Beide Verständnisweisen des Teekesselchens "Klimaneutralität" sind normiert. Das territoriale Verständnis ist normiert in den Richtlinien für Treibhausgas-Inventare des Weltklimarats IPCC.

Für das unternehmerische beziehungsweise institutionelle Verständnis hat sich international das Greenhouse Gas Protocol durchgesetzt. Danach werden die Emissionen in drei Bereiche (englisch scopes) eingeteilt:

  • Scope 1 enthält die direkten Treibhausgasemissionen aus Verbrennungsprozessen in stationären und mobilen Anlagen der Institution.
  • Scope 2 umfasst die indirekten Treibhausgasemissionen aus der Vorleistung eingekaufter leitungsgebundener Energien.
  • Scope 3 enthält alle sonstigen indirekten Treibhausgasemissionen aus vor- und nachgelagerten Aktivitäten.

Die eigentlich spannende Frage ist: Was helfen die vielfältigen Aktivitäten nach der institutionellen Definition bei den letztlich entscheidenden staatlichen Aktivitäten nach der territorialen Definition?

Die Antwort lautet: Man kann nicht einfach aufaddieren und sagen, 100 Millionen Tonnen jährliche Minderung nach institutioneller Definition sind 100 Millionen Tonnen Beitrag zum staatlichen Ziel nach territorialer Definition gemäß UN-Verträgen.

Die Beiträge sind vielmehr, bleiben sie so "roh" wie bislang, nicht additiv, es gibt Doppelzählungen.

Man könnte die Addierbarkeit zu einer lösbaren Aufgabe machen. Pläne liegen vor. Aber bislang will da niemand ran.

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