Friedrich Merz hätte Härte zeigen können. Mitte Januar hatte sich der Kanzlerkandidat der Union vor Betriebsräten zweifelnd zum Konzept des "grünen Stahls" geäußert.

Er glaube nicht daran, sagte Merz, dass der schnelle Wechsel zum Wasserstoff-Stahlwerk erfolgreich sein werde. Wo solle der Wasserstoff herkommen? Und dann sei die "grüne" Tonne Stahl mindestens 300 Euro teurer als die konventionelle.

 

Nach harter Kritik ruderte Merz tags darauf zurück. Er sei ein Befürworter regenerativer Energie und von Wasserstoff – und somit von grüner Stahlproduktion, gab der CDU-Politiker zu verstehen.

Bezüglich der Kosten hätte Merz nur hart rechnen müssen. Die Mehrkosten von 300 Euro pro Tonne Stahl verteuern zum Beispiel ein deutsches Verbrenner-Auto um weniger als ein Prozent. Viel anderes kommt auch bei anderen Stahlprodukten nicht heraus.

Auch haben Stahlverwender ein veritables Interesse an grünem Stahl. Nur mit diesem bekommen sie ihre Produkte klimaneutral. Laut der europäischen Umweltorganisation Transport & Environment (T&E) könnte "grüner" Stahl die CO2-Emissionen der europäischen Autoproduktion bis 2030 um knapp sieben Millionen Tonnen reduzieren.

Dekarbonisierung der Industrie steht noch am Anfang

So viel CO2-Einsparung bringt in etwa, nebenbei gesagt, auch ein generelles Tempolimit auf deutschen Straßen, das allerdings jedes Jahr. Auch kostet ein Tempolimit fast nichts – im Unterschied zum "grünen" Stahl. Damit Thyssen-Krupp in den nächsten 20 Jahren eine einzige Stahlkocherei auf Wasserstoff umstellt, sind dem Konzern zwei Milliarden Euro Förderung zugesagt.

Die Industrie zu dekarbonisieren – damit steht Deutschland noch am Anfang. Das macht auch das jüngste Gutachten des Expertenrats für Klimafragen klar. In der Industrie gebe es nur "marginale" Fortschritte bei der Elektrifizierung von Prozessen, die bislang fossile Energie nutzen, stellt das Anfang Februar vorgelegte Zwei-Jahres-Gutachten fest.

Nächtliche Skyline-Ansicht des Thyssen-Krupp-Stahlwerks in Duisburg mit Hochofen im Vordergrund.
Thyssen-Krupp-Stahlwerk in Duisburg, vorn der Hochofen. (Bild: Rusłan Taran/​Shutterstock)

Von 2020 bis 2023 sei der Anteil von Kohle am Endenergieverbrauch in der Metallerzeugung sogar von rund 51 auf über 53 Prozent gestiegen, heißt es weiter. Kohle war einfach billiger als Gas.

Insgesamt aber hält die deutsche Industrie ihre gesetzlichen Klimapflichten bisher ein. Ursache ist nur eben weniger der Klimaschutz, sondern vor allem das geringe Produktionsniveau, verglichen mit dem besten Vorkrisen-Jahr 2019. Gerade energieintensive Industrien wie Grundstoffchemie und Metallerzeugung verzeichneten 2022 und 2023 eine deutlich gesunkene Produktion, konstatiert das Gutachten.

Damit die Industrie ihr Klimaziel für 2030 erreicht, muss sie ihr Tempo bei der CO2-Reduktion nahezu verdreifachen, rechnet das unabhängige Gremium weiter vor. Dafür sei aber nicht genügend Wasserstoff verfügbar. Der H2-Ausbau sei bisher nur geringfügig vorangeschritten, sowohl bei der inländischen Erzeugung als auch beim Import des grünen Wasserstoffs.

Energieintensiv heißt wenig Beschäftigung und Wertschöpfung

Aus der wenig rosigen Lage heraus regte Hans-Martin Henning, der Chef des Klima-Expertenrats, jetzt eine offene Diskussion auch über die Zukunft der auf grünen Wasserstoff angewiesenen energieintensiven Industrie in Deutschland an.

Wenn ab Mitte der 2030er Jahre immer mehr Wasserstoff in sonnen- und windreichen Regionen der Welt erzeugt werde, stelle sich die Frage, wie sinnvoll es ist, diesen Wasserstoff nach Deutschland zu importieren und hier Vorprodukte herzustellen, gab Henning zu bedenken.

Ob es im Rahmen der internationalen Arbeitsteilung nicht besser sei, energieintensive Vorprodukte wie Ammoniak oder Eisenschwamm vor Ort herzustellen und erst dann nach Deutschland zu bringen, fragte der Physiker.

Genau dieser Frage widmet sich auch ein im Dezember veröffentlichter Report des Kopernikus-Projekts Ariadne. Das im Rahmen des nationalen Energieforschungsprogramms vorgelegte Papier weist zunächst darauf hin, dass Eisen-, Stahl- und Chemiebranche zwar wichtige energieintensive Grundstoffe für die deutsche Wirtschaft liefern, zugleich aber eher kleine Anteile an Beschäftigung und Wertschöpfung haben.

So seien im zuletzt besten Produktionsjahr 2019 in Eisen und Stahl direkt nur etwa 120.000 Menschen beschäftigt gewesen, ein Viertelprozent aller Erwerbstätigen. Den Anteil der Branche an der gesamten Wertschöpfung beziffert der Ariadne-Report auf etwa 0,3 Prozent.

Subventionen könnten in eine Sackgasse führen

Kurz gesagt: Um so wenig Wertschöpfung und Beschäftigung "ergrünen" zu lassen, wären viele öffentliche Milliarden zu investieren. Es geht ja nicht nur um die zwei Milliarden für Thyssen-Krupp. Dazu gesellen sich Ausgaben für den Ausbau der erneuerbaren Energien, für den grünen Wasserstoff und die nötige neue Infrastruktur. Zugleich aber gibt es keine Garantie, dass sich das langfristig rentiert.

Von "unbequemen Wahrheiten" spricht hier der Ariadne-Report selbst. Ein strukturelles "Weiter so" in der Breite der energieintensiven Industrie in Deutschland sei "nicht realistisch", betonen die Autorinnen und Autoren.

Große chemische Industrieanlage bei Nacht.
Inwieweit sich mit energieintensiven Produkten überhaupt in den planetaren Grenzen wirtschaften lässt, fragte auch der Ariadne-Report nicht. (Bild: Saoirse Lastmord/​Shutterstock)

Das liege nicht nur an mangelnder Wettbewerbsfähigkeit, sondern auch an "fundamentalen" physikalischen und ökonomischen Gründen, heißt es weiter. Diese erlaubten es nicht, sämtliche energieintensiven Produktionsschritte grüner Grundstoffe künftig in Deutschland durchzuführen. Und das mit Subventionen erzwingen zu wollen, drohe in einer Sackgasse zu enden – klima- und industriepolitisch wie auch fiskalisch, warnt der Ariadne-Report.

Statt eines "Weiter so" in Grün empfiehlt der Report, sich hierzulande stärker auf die hohe Wertschöpfung in der industriellen Weiterverarbeitung konzentrieren. Da steckt ein Körnchen harte Wahrheit drin: Nicht der grüne Stahl macht den größten Teil des Werts etwa eines Autos aus, sondern das Know-how, das in dem Auto steckt, welches bekanntlich mehr und mehr einem fahrenden Laptop gleicht.

Die Ariadne-Fachleute wollen dabei nicht missverstanden werden. Es gehe um langfristige Entwicklungen und einzelne Fälle, in denen ausländische Produzenten mit guten Voraussetzungen für erneuerbare Energien grüne Produkte herstellen und global vermarkten, erklärt Mitautor Philipp Verpoort vom Potsdam Institut für Klimafolgenforschung (PIK) auf Nachfrage.

"Auslagerung der energieintensivsten Schritte ist keine Deindustrialisierung"

"Wichtig ist, dass es sich bei den importierten Produkten nicht notwendigerweise um fertige Grundstoffe wie Stahl, Düngemittel oder Kunststoffe handelt, sondern um sogenannte Vorprodukte wie Eisenschwamm, Ammoniak oder Methanol", betont Verpoort ausdrücklich.

Der Report plädiert entsprechend dafür, nur den wirklich energieintensivsten Schritt dorthin auszulagern, wo es günstigen grünen Wasserstoff gibt. Der hochwertige Teil der Produktion soll dagegen in Deutschland verbleiben. Dies als "Deindustrialisierung" zu bezeichnen, wäre irreführend, zieht der Ariadne-Report als Fazit.

Wer annimmt, mit dem Auslagern energieintensiver Prozesse ließen sich hierzulande die Treibhausgas-Emissionen spürbar senken, wird vorerst enttäuscht. Ob es durch den Import grüner Vorprodukte aus dem Ausland zu einer größeren oder schnelleren Emissionsminderung in Deutschland kommt, lasse sich im Augenblick nicht sagen, schränkt PIK-Experte Verpoort ein.

Der Grund dafür: Noch ist unklar, wie schnell der Hochlauf grünen Wasserstoffs vor sich geht. Lässt er auf sich warten, würde Deutschland die energieintensiven Produkte weiter meist auf fossiler Basis herstellen. Das würde Mehremissionen bedeuten.

Die ließen sich vermeiden, wenn die "grünen" Vorprodukte im Ausland schneller Fuß fassen. "Wie langsam oder schnell die Anlagen und Infrastrukturen in Deutschland und im Ausland aufgebaut werden können, ist jedoch extrem unsicher", erläutert Verpoort – und ebenso der CO2-Effekt.

 

Klar ist aber schon jetzt: Energieintensives wie "grüner" Stahl muss künftig nicht mehr von Anfang an in Deutschland selbst hergestellt werden. Das Erreichen von Klimaneutralität setzt auch auf die Vorteile internationaler Arbeitsteilung.

Friedrich Merz hätte seine zweifelnde Position so auch klimapolitisch härten können. Auf eine solche Idee kommt er natürlich nicht. Der Erhalt der deutschen Industrie sei wichtiger als Klimaschutz, sagt der Kandidat und bemüht dazu das Narrativ der drohenden Deindustrialisierung.

Tatsächlich sind die Verhältnisse inzwischen andere: Die Industrie, vor allem die energieintensive, lässt sich künftig nur noch mit und nicht gegen einen global gedachten Klimaschutz denken.

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