Windkraft Brandenburg
Durch trickreiche "Eigenversorgung" über weite Entfernungen haben große Unternehmen viel Geld gespart, das der Energiewende fehlt. (Foto: Susanne Götze)

Bis zur Seite 168 der Vorlage muss man blättern – und vor allem wissen, was es bedeutet. Dort wird der Absatz 5 des Paragrafen 104 des geltenden Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) aus dem Jahr 2017 aufgehoben und der eher kurze Absatz mit einer langen Neufassung im gestern vom Bundestag verabschiedeten EEG 2021 ersetzt.

In den tausend Zeichen des neuen Absatzes 5 ist, für Außenstehende kaum verständlich, von einem Streit oder einem Leistungsverweigerungsrecht die Rede. Gegenüber stehen sich wohl Stromversorger auf der einen und Netzbetreiber auf der anderen Seite.

Die neue Regel im Absatz 5 könnte für einige große Unternehmen aber Millionen Euro wert sein, manche Schätzung geht sogar weit in die Milliarden. Im Kern geht es dabei um sogenannte "Kraftwerksscheiben":

Was Solarstromerzeugern bis heute weitgehend verwehrt wird, hatten Industrieunternehmen und deren Stromversorger etwa ab 2012 für sich entdeckt: Die damalige Novelle des EEG schuf ihrer Ansicht nach die lukrative Möglichkeit, ein Kraftwerk in einzelne Erzeugungs-"Scheiben" aufzuteilen und die jeweilige Stromerzeugung an auch weiter entfernte Großabnehmer zu verpachten.

Die Großabnehmer versorgten sich dann aus diesem "Kraftwerksteil" selbst mit Strom und wurden so – als stünde das Industriekraftwerk quasi auf dem Betriebsgelände – zu Stromeigenversorgern. Dann, nahmen sie an, sei auch keine EEG-Umlage zu entrichten.

Zu den Nutznießern eines solchen Konstrukts sollen zum Beispiel Daimler, Evonik und Bayer gehören. Die nicht gezahlten Summen verteuerten die EEG-Umlage besonders für Haushalte und Gewerbetreibende, die ohnehin schon die zur selben Zeit eingeführten Strompreisrabatte für energieintensive Unternehmen zu tragen hatten.

Diese Entlastungen belaufen sich zurzeit auf etwa 4,5 Milliarden Euro jährlich und werden durch ein Gesetz mit dem unverfänglichen Namen "Besondere Ausgleichsregelung" gewährt.

Amnestie für Nicht-Zahler

Zurück zu den "Scheiben": 2014 wurde mit der nächsten EEG-Novelle die Möglichkeit, sich de facto übers Stromnetz und hunderte Kilometer Entfernung "eigenzuversorgen", eingedämmt und die noch heute gültige Bestimmung geschaffen, dass eine Anlage zur Eigenversorgung (und mit EEG-Erlass) mindestens in Sichtweite des Großverbrauchers stehen muss, juristisch nennt sich das "unmittelbarer räumlicher Zusammenhang". Natürlich wurde den bis 2014 geschaffenen "Scheiben"-Konstrukten Bestandsschutz gewährt.

Diese rechtlich fragwürdige Praxis war der Bundesnetzagentur sowie den großen Netzbetreibern, die das EEG-Konto zu verwalten haben, ein steter Dorn im Auge. Sie konnten sich aber aufgrund einer unübersichtlichen Rechtslage und gewiefter Anwaltskanzleien lange nicht entscheidend durchsetzen.

Um das Problem abzuräumen, wurde mit der 2017er Novelle des EEG eine erste Amnestie-Regelung erlassen. Sie gestattete es betroffenen Kraftwerkseignern, unter bestimmten Bedingungen um eine Nachzahlung der EEG-Umlage herumzukommen. Dazu gehörte zum Beispiel, die erzeugten und nicht EEG-bezahlten Strommengen den Netzbetreibern zu melden. Die Frist dafür lief Ende 2017 ab.

Parallel dazu veranlassten die Netzbetreiber aber auch eine umfassende juristische Prüfung des ganzen "Scheiben"-Konstrukts und begannen die Zahlungsverweigerer vor Gericht zu bringen – und bekamen dort auch Recht, oder dies drohte zumindest.

In dieser zunehmenden Not springt nun die Koalition den Zahlungsverweigerern erneut zur Seite und erlässt mit der eingangs genannten Einfügung eine zweite Amnestie für die "Eigenversorger".

Welche Summen dem EEG-Konto hier vorenthalten werden, ist nicht genau bekannt. Die öffentliche politische Empörung darüber hält sich auch in Grenzen.

Private Haushalte tragen die Kosten

Die erneute Amnestie sei Ergebnis eines politischen Deals zwischen Union und SPD, erklärte der Fraktionsvize der Grünen, Oliver Krischer, diese Woche. Die Union habe einen solchen Schlussstrich "seit Langem immer wieder gefordert", sagte er.

Der Deal habe darin bestanden, dass diverse bürokratische Gemeinheiten, die der Bundeswirtschaftsminister in den EEG-Entwurf geschrieben hatte, von der SPD jetzt herausverhandelt wurden. Krischer: "Dafür hat sie Zugeständnisse bei großen Industriekonzernen gemacht, die jetzt keine hohen Nachzahlungen zur Finanzierung der Energiewende leisten müssen."

Die Einigung werde aber für die privaten Haushalte teuer, warnte Krischer. "Hunderte Unternehmen müssen nachträglich keine EEG-Umlage in Milliardenhöhe zahlen, diese Kosten müssen jetzt von der Allgemeinheit übernommen werden."

Den mehr als 300 Seiten starken und von den Koalitionsfraktionen mit zig Änderungen gespickten Gesetzentwurf bekamen die Abgeordneten, erzählte Krischer weiter, am Dienstagabend erst so gegen 17 Uhr auf den Tisch – eine Stunde, bevor der Wirtschaftsausschuss den Entwurf zu verabschieden hatte. "Eine seriöse Beratung ist da schlicht und ergreifend nicht mehr möglich."

Standort Deutschland nur bei rechtswidrigen Praktiken attraktiv?

In der gestrigen Bundestagsdebatte zum Gesetz verteidigte Joachim Pfeiffer (CDU) den Milliarden-Nachlass mit dem juristisch schon erledigten Argument, eine Eigenversorgung vom Hausdach sei dasselbe wie die von der fernen Kraftwerks-"Scheibe".

Wörtlich sagte Pfeiffer: "Bei der Eigenversorgung, egal ob Photovoltaikanlagen auf dem Dach für das Einfamilienhaus oder im Industriebereich, schaffen wir Rechtssicherheit bei der Scheibenpacht, beispielsweise für Unternehmen, die im internationalen Wettbewerb stehen und vor Existenzfragen stehen." Man wolle die Unternehmen nicht "aus dem Land vertreiben".

Dass der Standort Deutschland nur bei rechtswidrigen Praktiken attraktiv sein soll, ist an sich schon erstaunlich. Getoppt wurde der Unionsabgeordnete aber noch durch Johann Saathoff von der SPD-Fraktion, der die Amnestie mit dem beliebten Arbeitsplatzargument begründete. Die geschaffene "Rechtssicherheit" für Industrieunternehmen sei "wichtig für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Bereich", sagte Saathoff.

Was Geschenke bei der EEG-Umlage betrifft, hat die SPD seit 2014 offenbar nichts dazugelernt. Schon vor sechs Jahren warnte der damalige Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD), wenn die Milliarden-Rabatte bei der EEG-Umlage, die über die Besondere Ausgleichsregelung fließen, gekappt würden, drohten "schwerste Verwerfungen" am Industriestandort Deutschland.

Zwar kosteten die Industrie-Rabatte einen durchschnittlichen Drei-Personen-Haushalt rund 40 Euro im Jahr – wer aber wolle für diese 40 Euro "hunderttausende Arbeitsplätze aufs Spiel setzen?", fragte Gabriel schon damals scheinheilig.

Zu der Zeit saß Johann Saathoff übrigens auch schon im Bundestag.

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