Claudia Kemfert. (Bild: Oliver Betke)

Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrats erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Claudia Kemfert, Professorin für Energiewirtschaft und Chefin des Energie- und Umweltbereichs am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung DIW.

Klimareporter°: Frau Kemfert, Investitionen von 600 Milliarden Euro in die Infrastruktur Deutschlands halten zwei Wirtschaftsforschungs-Institute in den kommenden zehn Jahren für notwendig, darunter 200 öffentliche Milliarden für Klimaschutz, vor allem für energetische Gebäudesanierung.

Zur Finanzierung schlagen die Institute in einer Studie einen Infrastrukturfonds vor, der als Sondervermögen von der Schuldenbremse ausgenommen sein soll, oder eine Ergänzung zur Schuldenbremse, die entsprechende Kredite ermöglicht. Brauchen wir wirklich einen exorbitanten Geldregen?

Claudia Kemfert: Deutschland muss investieren, um aus der wirtschaftlichen Krise herauszukommen und die Energiewende- und Klimaziele zu erreichen.

Eine umfassende Energiewende mit einer weitestgehenden Vollversorgung aus Erneuerbaren ist notwendig, das bedeutet den Ausstieg aus allen fossilen Energien – Kohle, Erdöl und Erdgas. Die Wirtschaft muss emissionsfrei werden.

Energieversorgung ohne Atom und Kohle, aber mit Erneuerbaren wird dezentraler werden, kleinteiliger, vernetzter und smarter. Das Energiesparen in allen Sektoren ist dabei elementar.

Der Gebäudesektor wird durch energetische Sanierungen selbst zum Energieerzeuger werden, Stichwort Prosumer.

Die Industrie muss modernisiert und auf Klimaschutz ausgerichtet werden. Und im Verkehrssektor werden ein ausgebauter und verbesserter ÖPNV und Schienenverkehr sowie der Umstieg zur Elektromobilität den zunehmenden Anteil von Ökostrom effizient nutzen.

Für all das braucht es Investitionen. In der Krise zu sparen, ist nicht nur dumm, sondern auch gefährlich. Nur mit Investitionen kommen wir aus der Krise.

Unabhängig von der genauen Höhe der Investitionen, die in der Studie genannt werden, ist dennoch klar, dass es große Summen sind, die aufgebracht werden müssen. Diese Investitionen schaffen wirtschaftliche Chancen, Arbeitsplätze und Wertschöpfung und machen die Wirtschaft zukunftsfähig.

Mit einem gesamtstaatlichen Infrastrukturfonds, der dem Staatsschuldenrecht als Sondervermögen entzogen wäre, könnten diese Investitionen finanziert werden. Aus einem solchen Sondervermögen ließen sich Investitionen im Rahmen einer verbindlichen mehrjährigen Planung über Kredite finanzieren.

Als Zusatz zur Schuldenbremse würde es dem Staat ermöglichen, Kredite im Umfang der Investitionen aufzunehmen. Dies ist ein eleganter und auch ein kluger Weg, um die Investitionen zu finanzieren.

Über die Einführung einer Pflichtversicherung gegen Elementarschäden wollen Bund und Länder im Juni beraten – eine Reaktion auf steigende Schäden durch Hochwasser, Stürme oder Erdrutsche. Das Bundesjustizministerium warnt vorab, eine Versicherungspflicht würde Wohnen in Deutschland teurer machen. Sind Sie für eine Pflichtversicherung gegen Elementarschäden?

Ja. Es ist absolut sinnvoll, eine Pflichtversicherung gegen Elementarschäden einzuführen. Auch mein leider kürzlich viel zu früh verstorbener Kollege Gerd Wagner hat sich zeitlebens immer dafür ausgesprochen.

Die Schäden durch Naturkatastrophen werden weiter zunehmen, wie gerade das Hochwasser im Saarland wieder zeigte. Bisherige Bau- und Infrastrukturplanungen berücksichtigen extreme Klima- und Wetterereignisse zu wenig, zudem ist der Hochwasserschutz bislang unzureichend.

Es muss darum gehen, weniger Böden zu versiegeln und weniger Flüsse zu kanalisieren sowie ausreichende Retentionsflächen und mehr Deichschutz zu ermöglichen.

Eine Pflichtversicherung lässt Menschen auch vernünftiger mit Naturgefahren umgehen. Eine solche Pflicht zur Versicherung gegen Naturgefahren sollte insbesondere für Wohngebäude eingeführt werden.

Eine Versicherung sichert nicht nur im Schadensfall ab, die Prämien stellen auch einen Anreiz dar, Vorsorge zu betreiben.

Dafür müssen die Prämien nach Gefahrenlage und Vorsorge gestaffelt sein. Bei einer Katastrophenversicherung geht es laut Studien selbst in extremen Hochwasserlagen maximal um weniger als 1.000 Euro pro Jahr, für ein Einfamilienhaus in Normallagen um weniger als 100 Euro.

Der Sachverständigenrat für Verbraucherfragen hat die Elementarschadenspflicht geprüft und als verfassungsrechtlich zulässig bewertet. Die volkswirtschaftlichen Kosten durch einen immer weiter fortschreitenden Klimawandel und entsprechende Naturkatastrophen sind gigantisch, für die einzelnen Betroffenen können sie ebenso sehr groß sein.

Daher ist es absolut sinnvoll, eine solche Versicherungspflicht einzuführen.

Der Bau von Neuconnect, der ersten direkten Stromverbindung zwischen Großbritannien und Deutschland, begann in dieser Woche. Durch das 720 Kilometer lange und drei Milliarden Euro teure Unterwasserkabel wird Deutschland aber keinen grünen Windstrom importieren, sondern britischen Atom- und Erdgasstrom, sagen Kritiker. Wie sehen Sie das Leitungsprojekt?

Grundsätzlich ist es sinnvoll, über direkte Stromverbindungen in europäische Nachbarländer die Sicherheit der Stromversorgung zu erhöhen. Länderübergreifende Stromtrassen erhöhen generell die Versorgungssicherheit in ganz Europa.

Im Strommarkt entscheidet stets der Strompreis, ob und wohin Strom ge- und verkauft wird. Je preiswerter der Strom ist, desto eher wird er gekauft.

In der Tat wird in England Strom auch aus Atomkraft und Erdgas erzeugt. Dieser Strom ist aber teurer als der aus erneuerbaren Energien. Zudem ist damit zu rechnen, dass der Anteil von Atomenergie auch in Großbritannien aufgrund der Kosten zurückgehen wird.

Somit ist es eher wahrscheinlich, dass Strom aus erneuerbaren Energien ge- und verkauft wird. Es ist also eher damit zu rechnen, dass Deutschland aus Großbritannien erneuerbaren Strom importieren wird.

Umgekehrt ist Großbritannien wohl eher daran interessiert, Strom aus Deutschland zu kaufen, und zwar solchen aus erneuerbaren Energien, der deutlich preiswerter ist als anderer.

Am Mittwoch war der internationale Tag der biologischen Vielfalt. Nach wie vor sind etwa eine Million Arten vom Aussterben bedroht. Fachleute halten den Verlust an Biodiversität für ein noch größeres Problem als den Klimawandel, denn ohne die Leistungen der Ökosysteme ist die Existenzgrundlage aller Völker und Gesellschaften in Gefahr. Wie hoch ist die Dringlichkeit, die biologische Vielfalt zu erhalten?

Ich bewerte die Dringlichkeit als extrem hoch. In der Tat ist ohne die Leistungen der Ökosysteme die Existenzgrundlage aller Nationen und Gesellschaften in Gefahr. Im Sachverständigenrat für Umweltfragen haben wir uns dieser Frage intensiv gewidmet. Der Verlust an Biodiversität ist dramatisch.

Genau aus dem Grund haben kürzlich drei Sachverständigenräte – für Umwelt, für genetische Ressourcen und für Waldpolitik – gemeinsam Empfehlungen für eine Renaturierungspolitik von Bund und Ländern erarbeitet und der Bundesregierung ein Sondergutachten zu diesem Thema übergeben.

In dem Gutachten wird darauf hingewiesen, dass die Biodiversität gestärkt und Flächen zukunftsfähig bewirtschaftet werden müssen und dass Renaturierung einen sehr, sehr hohen Stellenwert bekommen muss. Es geht neben einer Verbesserung des Zustands von Schutzgebieten auch um naturverträgliche Formen der Landnutzung.

Die Renaturierungspolitik ist eine gesellschaftliche Aufgabe, die nicht nur den Naturschutz betrifft, sondern auch die Stadt- und Regionalplanung, vor allem aber die Landwirtschaft und Waldbewirtschaftung einbeziehen muss. Die Flächenkonkurrenz bringt Konflikte mit sich, die klug moderiert werden müssen. 

 

Und was war Ihre Überraschung der Woche?

Überraschend war für mich die breite Resonanz auf unser neues Gutachten, in dem wir feststellen, dass auch ohne russische Gaslieferungen die Versorgungssicherheit gewährleistet ist. Unsere Studie zeigt, dass die Erdgasversorgung auch ohne die Importe aus Russland in ganz Europa gesichert werden kann.

Zusammen mit Lukas Barner und Christian von Hirschhausen von der TU Berlin haben meine DIW-Kollegin Franziska Holz und ich für die Studie aktuelle Modellanalysen gemacht, ob die EU-Länder einen Lieferausfall von russischem Erdgas kompensieren können.

Ergebnis: Zwar importiert die EU seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine nur noch rund ein Viertel der ursprünglichen Gas-Menge aus Russland. Das Land bleibt dennoch Exporteur von Flüssigerdgas in die EU und hat auch noch einige EU-Länder in Mittel- und Osteuropa energiepolitisch im Griff.

So bezieht Österreich noch 95 Prozent seiner Erdgas-Importe aus Russland. EU-weit hat Russland aber nur noch einen Anteil von 14 Prozent an der Erdgasnachfrage. Länder wie Deutschland kämen auch ohne Importe aus Russland aus. Das wegfallende russische Erdgas würde insbesondere durch Erdgas aus Norwegen und den USA, aber auch aus Ländern wie Algerien, Katar, Nigeria und Aserbaidschan kompensiert werden können.

Mittel- und langfristig steuert die europäische Energiewirtschaft auf einen Erdgasausstieg zu. Der rasche Umstieg auf erneuerbare Energien ist nicht nur klimapolitisch sinnvoll. Er trägt auch maßgeblich dazu bei, bestehende Importabhängigkeiten und damit die vermeintliche Erpressbarkeit einiger europäischer Staaten zu verringern.

Fragen: Jörg Staude