Der Showdown blieb auch am Dienstag aus. Tag für Tag schaut die deutsche Energiepolitik nach Berlin, ob das Wirtschaftsministerium die bestellte Arbeit zum Monitoring der Energiewende, den sogenannten Realitätscheck, veröffentlicht oder durchstechen lässt.

Wer im Haus von Katherina Reiche (CDU) nachfragte, wurde bislang beschieden, die Studie des Energiewirtschaftlichen Instituts der Uni Köln (EWI) und des Beratungsunternehmens BET werde zum Ende des Sommers vorliegen.

Entsprechend hatten sich führende Medien den letzten Tag des Augusts oder den ersten Tag des Septembers im Kalender angekreuzt.

 

So war dann in der montäglichen Ausgabe der ZDF-Sendung Wiso ein Beitrag mit dem Titel "Mammutaufgabe Energiewende" zu sehen, samt einem Gespräch mit der renommierten Volkswirtschaftlerin Karen Pittel, Leiterin des Ifo-Zentrums für Energie, Klima und Ressourcen der Uni München.

Eine Berliner Zeitung hob zum wiederholten Mal den Energiewende-Skeptiker Manuel Frondel vom Wirtschaftsforschungsinstitut RWI ins Blatt, der erneut über den überzogenen Ausbau der Erneuerbaren klagen durfte.

Wann der "Realitätscheck" auf den Tisch der Öffentlichkeit kommt, verriet Katherina Reiche auch am gestrigen Dienstagnachmittag bei ihrem Auftritt bei der Stiftung Arbeit und Umwelt in Berlin nicht.

Die Stiftung ist der Thinktank der Gewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE). Sie hatte die Ministerin zu ihrer Jahrestagung eingeladen, die mit dem holprigen Thema "To do: Transformation" überschrieben war, natürlich bedeutungsschwer in Großbuchstaben.

Kein CO2-Preis für energieintensive Unternehmen?

Inhaltlich ging es da viel um die wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit Deutschlands, um die geostrategische Lage Europas, eingeklemmt zwischen den USA und China, um Rohstoffpartnerschaften und auch um eine unter Mitwirkung der Beratungsfirma Prognos erstellte Resilienz-Studie.

Eingangs der Tagung spann der Stiftungsvorsitzende und IG‑BCE-Chef Michael Vassiliadis seine zuletzt mehrfach verkündete Auffassung weiter, auch wegen der CO2-Preise stünde insbesondere die deutsche Chemieindustrie unter "extremstem" Druck. 

Ein steigender Preisdruck auf CO2-intensive Unternehmen bringe nicht die gewünschten Entwicklungen, jedenfalls nicht überall, behauptete er. Am Ende werde dies nur dazu führen, dass CO2 durch Abschalten vermieden werde.

Chemiepark von Dow Chemical in Stade.
Energie-Großverbraucher wie die chemische Industrie sollen keinen CO2-Preis zahlen, schlägt Gewerkschaftschef Vassiliadis vor. (Bild: Christian ​Hager/​Dow)

Wie üblich verklausuliert plädierte der Gewerkschaftschef dann dafür, bei den Unternehmen den Maßstab "energieintensiv" in "CO2-intensiv" zu ändern und die industriellen CO2-Emittenten, die klimapolitisch "keine Chance haben", bis 2050 – das europäische Klima-Zieljahr nannte er – aus der CO2-Bepreisung herauszunehmen. Wörtlich sagte er, man solle den Unternehmen "das Geld lassen".

Was diese Unternehmen dann mit dem Geld machen, blieb offen, möglicherweise könnten sie 2050 klimaneutral sein. Das überließ der IG‑BCE-Chef der Fantasie der Unternehmen und der Zuhörerschaft.

Bei der Tagung selbst fiel ihm als Klimainstrument nur noch die CO2-Abscheidung und -Speicherung ein. CCS könne CO2 toll aus der Welt schaffen, sagte Vassiliadis.

Natürlich sagte er nicht, dass die energieintensive Industrie in Deutschland gar nicht unter CO2-Preisdruck steht, weil sie bislang noch immer 90 Prozent ihrer Emissionszertifikate kostenlos erhält. Und wenn es die nicht mehr gibt, soll die Industrie künftig in der EU durch den CO2-Grenzausgleich, abgekürzt CBAM, gegenüber der Konkurrenz geschützt werden.

Ob zu teuer oder zu billig – das ist egal 

Vor mehr als zehn Jahren, 2013, wollte Vassiliadis die CO2-Bepreisung durch den europäischen Emissionshandel schon einmal abschaffen. Damals lautet die Begründung gegenüber einer Zeitung allerdings nicht, der CO2-Preis setze die Unternehmen unter Druck.

Damals lautete die Klage, dass der Emissions-Markt gar keine Steuerungswirkung entfalte. Das war kein Wunder, denn 2013 dümpelte der CO2-Preis bei unter drei Euro pro Tonne herum.

Über solche Widersprüche in der eigenen Position macht sich Vassiliadis bei seinem klimapolitischen Feldzug keinen Kopf. Warum auch – die Hauptsache ist die Botschaft, der CO2-Preis sei der Grund des Übels.

2013 fand der IG‑BCE-Chef auch noch, Deutschland benötige für eine optimale Stromversorgung auch Kohle. Kohle stoße zwar etwas mehr CO2 aus als Erdgas, das lasse sich aber durch Investitionen in moderne Kraftwerke reduzieren, beruhigte Vassiliadis und warnte: Erdgas sei gegenüber Kohle deutlich teurer.

Damals bestimmte noch der Kohlekumpel den Gang der Energiegewerkschaft. In der Folge ließ Vassiliadis auch 2015 den Vorstoß des damaligen Wirtschaftsministers Siegmar Gabriel (SPD) zu einem Kohleausstieg scheitern. Das Ausstiegsgesetz kam erst 2020.

So verlor Deutschland wertvolle Jahre für die Energiewende und die Transformation. Dass das Land und seine Industrie nunmehr unter einem größeren Zeitdruck stehen, wie Vassiliadis wortreich beklagt, hat der Gewerkschaftschef entscheidend mitzuverantworten.

Bitte zwischen Klimaschutz und Sicherheit wählen

Katherina Reiche ist Politprofi genug, um zu wissen, was für ein Signal es aussendet, wenn sie sich auf einer Transformationstagung nahezu demonstrativ an der Seite von Vassiliadis sehen lässt. Sie ließ es sich auch nicht nehmen, diesen ordentlich zu zitieren.

Vassiliadis habe, sagte die Ministerin, in seinen jüngsten öffentlichen Äußerungen auf Systemkosten und Belastungen hingewiesen. Es müsse das Ziel sein, bekräftigte sie, Belastungen, die sich aus dem bisherigen Weg der Energiewende ergeben, nicht so hoch werden zu lassen, dass Unternehmen abwanderten.

Es gebe übrigens, behauptete Reiche, bislang keine Studie, die die kompletten Systemkosten der Energiewende transparent mache. Aus ihrer Sicht stehe auch Steuergeld, das für die Transformation ausgegeben werde, in Konkurrenz zu Steuergeld, mit dem soziale Systeme und Verteidigung hochgehalten würden.

Anders gesagt: Deutschland hat die Wahl zwischen Klimaschutz und Energiewende oder sozialer und militärischer Sicherheit.

Einen renommierten Transformations- oder CO2-Preis-Experten hatte sich die Stiftung zu ihrer Tagung nicht eingeladen. Den grünen Part durfte Andreas Audretsch übernehmen, Fraktionschef der Grünen im Bundestag.

Audretsch kritisierte unter anderem die Absicht der EU, zum Wohlgefallen von US-Präsident Trump für 750 Milliarden Euro Öl und Gas zu importieren. Das sei ein großes Problem.

Spätere Energiewende wird teurer, nicht günstiger

Auch lehnte der Grüne erwartungsgemäß ein Drosseln der Energietransformation ab. Vielmehr müsse es darum gehen, die Erneuerbaren so schnell wie möglich auszubauen und dadurch die Unabhängigkeit von den Autokraten der Welt zu vergrößern, erklärte Audretsch. Das sei elementar für die Frage, ob Europa stärker werde.

Reiche nutzte ihrerseits das autokratische Argument, um sich für eine Nutzung der Gasvorkommen Europas und Deutschlands sowie auch anderer einheimischer Ressourcen wie Lithium auszusprechen. Die Nutzung dieser Rohstoffe müssen dann aber auch finanziell unterstützt werden.

Auf Audretsch eingehend bestritt die Wirtschaftsministerin, sich für einen geringeren Erneuerbaren-Ausbau einzusetzen. Ihre Sorge gelte der Kosteneffizienz beim Klimaschutz und dem Erhalt der Industrie, betonte Reiche. Auch frage sie sich, ob die Erneuerbaren dauerhaft ohne Systemverantwortung in den Markt einspeisen sollten.

 

Ob der "Realitätscheck" dabei wirklich die ihm zugeschriebene Rolle spielen kann, ist allerdings fraglich. Die Erwartungen an die Studie seien teilweise "übertrieben", erklärte Karen Pittel am Montag im ZDF. Die Arbeit liefere ja keine neuen Berechnungen mit neuen Daten, sondern im Grunde nur eine Zusammenstellung bestehender Szenarien.

Für die Volkswirtschaftlerin stellte sich hier die Frage, wie diese ausgewählt und interpretiert werden. Andere Beobachter:innen des Studien-Hypes vermuten, dass es am Ende gar keine große Studie geben wird, sondern eher ein politisch gefärbtes Papier.

Pittel warnte im Fernsehen jedenfalls davor, die Energiewende hinauszuzögern. Es sei ein Irrtum zu denken, dass es dadurch günstiger werde, vielmehr würden dann die Kosten noch höher sein.

So sieht wohl der wahre Showdown aus.