Bahnschienen mit einer Weiche, auf den Schienen liegend aufgenommen.
Wird die Bundesregierung die richtigen Weichenstellungen vornehmen? (Foto: Madmax22/​Pixabay)

Zehn Tage bevor Deutschland zum 1. Juli turnusgemäß den Vorsitz im EU-Ministerrat übernimmt, gingen die führenden Wissenschaftler:innen des Landes letzte Woche an die Öffentlichkeit. Klimaschutz, so ihr dringender Appell, müsse von der Bundesregierung zum wichtigsten Schwerpunkt ihrer Ratspräsidentschaft gemacht werden.

"Mit dem Ratsvorsitz hat Deutschland die Chance, einen neuen Aufbruch in der europäischen Klimapolitik einzuleiten", heißt es in der Stellungnahme, die von der Nationalakademie Leopoldina gemeinsam mit der Akademie der Technikwissenschaften (Acatech) und der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften vorgelegt wurde.

Damit die Bundesregierung diese Chance nutzen kann, empfiehlt das Papier, die europäische Energiewende entschlossen voranzubringen und einen allgemeinen CO2-Preis als "Leitinstrument für den Klimaschutz" zu etablieren.

Zudem sollen die enormen Finanzmittel, die über die nächsten Jahre zur Bewältigung der Coronakrise mobilisiert werden müssen, im Einklang mit den Zielen des Pariser Klimaabkommens eingesetzt werden.

Heutige Entscheidungen hätten oft Folgen für viele Jahrzehnte. "Deshalb kommt es jetzt darauf an, in einer gemeinsamen Kraftanstrengung die entscheidenden Weichen zu stellen", so die Forschenden. Klimaschutz sei nicht nur ein "Luxusproblem" von Wenigen, sondern eine dringende Menschheitsaufgabe.

Das Arbeitsprogramm der Bundesregierung für den deutschen EU-Ratsvorsitz, das Klimareporter° vorab vorliegt, lässt eine solche Dringlichkeit kaum erkennen. Klimaschutz wird zwar als einer der Schwerpunkte genannt. Doch was genau das bedeuten soll, bleibt in dem 25-seitigen Papier bemerkenswert ungenau.

So will die Bundesregierung im Ministerrat lediglich darüber "diskutieren", die CO2-Bepreisung auf alle Sektoren aufzuweiten und im Rahmen des europäischen Emissionshandels eine "moderate CO2-Mindestbepreisung" einzuführen. Das ist vage formuliert und alles andere als ein dezidiertes Projekt für die sechsmonatige Amtszeit.

Ähnliches gilt für den Green Deal. Das zentrale Vorhaben der EU-Kommission wird zwar gelobt. "Zu Recht", heißt es im Programm, habe die Kommission "den europäischen Grünen Deal als umfassende und ambitionierte Strategie vorgelegt". Von einem Vorantreiben des Projekts ist dennoch keine Rede. "Wir werden die Implementierung des Grünen Deals umfassend begleiten", heißt es bloß lapidar.

"Öffentliche Milliarden nicht ohne Klimaprüfung"

Genauso bei der Bewältigung der Corona-Pandemie. Dies soll "nachhaltig und inklusiv" geschehen, kündigt die Bundesregierung an.

"Allerdings wird trotz schöner Worte nicht nachprüfbar sichergestellt, dass mit EU-Geld geförderte Investitionen nach der Coronakrise auch mit Klimaschutz und Nachhaltigkeit kompatibel sind", kritisiert Christoph Bals von der Entwicklungsorganisation Germanwatch.

"Wenn – sicher für lange Zeit zum letzten Mal – so viel öffentliches Geld ausgegeben wird", sagt Bals, "sind klare klimabezogene Prüfanforderungen an öffentliche Investitionen unerlässlich."

Ebenfalls offen bleibt, wie die "klimafreundliche, nachhaltige und bezahlbare Mobilität" konkret aussehen soll, auf die die Bundesregierung laut Programm im Verkehrsbereich "weiter hinarbeiten" will. Bislang jedenfalls hat Deutschland Fortschritte im Verkehrssektor immer wieder ausgebremst.

Auch bei den beiden wichtigsten Klimaschutzvorhaben, die im kommenden halben Jahr auf der EU-Agenda stehen, bleibt die Regierung im Ungefähren – bei dem Klimaschutzgesetz und beim Klimaziel für 2030.

Man wolle "darauf hinarbeiten", die Beratungen des Entwurfs eines europäischen Klimagesetzes "im Rat abzuschließen", so die Bundesregierung.

Der von der EU-Kommission im März vorgelegte Entwurf soll das Ziel der Klimaneutralität bis 2050 verbindlich verankern. Dass dabei auch ein Mechanismus vorgesehen ist, die verpflichtenden Emissionsreduktionen ab 2030 nachzuschärfen, erwähnt das Arbeitsprogramm nicht.

Klimaziel-Anhebung ohne Priorität

Bei der Anhebung des EU-Klimaziels für 2030, die noch in diesem Jahr erfolgen und deshalb vom deutschen Ratsvorsitz ausgehandelt werden muss, bezieht die Bundesregierung ebenfalls keine klare Position. Sie "begrüßt" lediglich, dass die Kommission einen Vorschlag angekündigt hat, das Ziel von derzeit 40 Prozent CO2-Minderung gegenüber 1990 auf 50 bis 55 Prozent anzuheben.

Allerdings weist das Arbeitsprogramm gleich zweimal darauf hin, dass die europäische Wettbewerbsfähigkeit dabei berücksichtigt werden muss. Das klingt nicht danach, als wolle die Bundesregierung mit aller Kraft für ein 55-Prozent-Ziel kämpfen.

Dabei wäre sogar ein 60-Prozent-Ziel machbar, wie zahlreiche Studien zeigen. "Das ist auch notwendig", sagt die Energieexpertin Claudia Kemfert gegenüber Klimareporter°. "Anders werden wir die Klimaziele nicht erreichen können."

Nur bei einem Thema setzt die Bundesregierung in dem nur dreiseitigen Klimakapitel einen eigenen Akzent, der über das hinausgeht, was im Arbeitsprogramm der EU-Kommission bereits festgelegt ist: die "sichere und zukunftsfähige Versorgung mit CO2-neutralen und vorzugsweise CO2-freien Gasen – wie insbesondere Wasserstoff aus erneuerbaren Energien".

Hier sollen laut Bundesregierung Diskussionen "zum notwendigen Marktdesign" geführt werden, mit dem Ziel, "zur Entwicklung der entsprechenden Märkte und Infrastrukturen in der Union beizutragen". Kritiker fürchten, dass damit vor allem die Erdgaswirtschaft gefördert wird.

Die von den Nationalakademien geforderte Weichenstellung sähe jedenfalls anders aus.

Redaktioneller Hinweis: Claudia Kemfert gehört dem Herausgeberrat von Klimareporter° an.

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