Das Gebäude der EU-Kommission in Brüssel
Sitz der EU-Kommission in Brüssel: Regularien, die hier erdacht werden, setzen sich oft weltweit durch – und sind nicht selten auch noch sinnvoll. (Foto: Dimitris Vetsikas/​Pixabay)

"Im Gegensatz zu anderen großen Volkswirtschaften kann die EU unilateral globale Standards setzen" schreibt die Rechtsprofessorin Anu Bradford von der New Yorker Columbia-Universität. Grund dafür sei der "Brüssel-Effekt".

Dieser Effekt ist schnell erklärt: Weil es für multinationale Konzerne zu teuer oder zu kompliziert ist, Produkte nach unterschiedlichen Standards herzustellen, halten sie sich einfach an den striktesten, und das ist meist der EU-Standard.

Denn auf den EU-Markt kann kein Großkonzern verzichten. Er ist zwar etwas kleiner als der US-Markt, dafür ist die EU Export- und Importweltmeister für Waren und Dienstleistungen.

EU-Standards gehören daher auch in den USA zum Alltag. "Wenigen Amerikanern ist bewusst, dass EU-Vorschriften über die Kosmetika bestimmen, die sie benutzen, über das Müsli, das sie zum Frühstück essen und über ihre Facebook-Einstellungen zum Schutz der Privatsphäre", zählt Bradford auf. "Und das alles vor neun Uhr morgens."

Das Privileg, der Welt unilateral Regeln setzen zu können, verdankt die EU einer Kombination aus drei Elementen: der Größe des EU-Markts, der Kompetenz ihrer Regulierungsbehörden und der Präferenz der EU-Bürger für strikte Regeln. Während in den USA Angst vor Überregulierung herrscht, bestimmt in Europa eher die Abneigung gegenüber unklaren Regeln die Normsetzung.

Britische Autoindustrie will EU-Vorschriften behalten

Dieses Phänomen lässt sich etwa bei Vorschriften zu Energieeffizienz oder Abgasgrenzwerten beobachten, das Paradebeispiel sind hier aber Chemikalien: Im Jahr 2007 beschloss die EU die Reach-Verordnung, nach der für alle chemischen Stoffe, die in der EU verkauft werden, ein Unbedenklichkeitsnachweis vorliegen muss.

Der Aufschrei in der Industrie beiderseits des Atlantiks war groß. Doch nun sind alle Stoffe zertifiziert und der US-Chemiekonzern Dow hält sich nach eigenen Angaben weltweit an Reach. Auch die britische Autoindustrie will auf keinen Fall von Reach erlöst werden, wenn es zum Brexit kommt.

Ihr Verband schrieb ans britische Unterhaus: "Unterschiedliche Regulierung sollte von Anfang an vermieden werden." Bei Chemikalien sei es "entscheidend, dass Großbritannien den Entscheidungen zur Evaluation und der anschließenden Autorisierung durch die EU folgt."

Mit Blick auf den Brexit sagt Bradford denn auch: "Der EU-Austritt wird Großbritannien nicht von der Leine der EU-Regeln befreien. Stattdessen verliert das Land die Rolle eines Regel-Gebers und wird zu einem Regel-Nehmer in einem noch stärker regulierten Europa."

"Die USA sollten die Datenschutz-Grundverordnung übernehmen"

Ähnlich sieht es beim Datenschutz aus. Hier setzt die europäische Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) den Standard für die Internetkonzerne. Microsoft etwa hält sich weltweit daran.

Für die Behörden in vielen Ländern dient der EU-Standard als Vorbild für eigene Regeln. Pansy Tlakula, die Chefin von Südafrikas Datenaufsicht, sagt: "Wir betrachten EU-Verordnungen als den optimalen Ansatz." Damit ist das Land nicht allein. Brasilien, Japan, Kolumbien und Südkorea haben mittlerweile ähnliche Regeln.

Selbst in den USA werden die Rufe lauter, eine vergleichbare Verordnung zu erlassen. Die Rufer sind Google, Apple, Facebook und Microsoft. Bei einer Konferenz in Brüssel sagte Microsoft-Vizepräsidentin Julie Brill: "Die DSGVO schafft Klarheit, was die Verkehrsregeln sein sollen. Wir denken, ein US-Gesetz sollte diese Prinzipien übernehmen."

Věra Jourová, die EU-Justizkommissarin, kann also zufrieden sein. Sie hatte von Anfang an gesagt: "Wir wollen einen globalen Standard setzen." Christopher Kuner von der Freien Universität Brüssel geht sogar noch einen Schritt weiter: "Was regulatorischen Einfluss angeht, ist Europa definitiv eine Supermacht."

Der Brüssel-Effekt bringt Europa enorme Vorteile

Der Brüssel-Effekt funktioniert auch im Wettbewerbsrecht. Was in den USA noch als fairer Wettbewerb gilt, ist in europäischen Augen oft schon Missbrauch von Marktmacht. Das ist auch den US-Technologiefirmen aufgefallen. Sie verklagen sich mittlerweile gegenseitig in Brüssel. Letztes Jahr wurde etwa Google zu einer Strafe von fünf Milliarden Euro verurteilt, weil Microsoft sich bei der EU-Kommission über den Konkurrenten beschwert hatte.

Es gibt aber auch Rechtsbereiche, wo der Brüssel-Effekt keine Rolle spielt. Dazu gehört die Regulierung der Finanzmärkte. Da sich Geld per Mausklick von einem Rechtsgebiet in ein anderes verschieben lässt, werden Geschäfte dort gemacht, wo die Vorschriften lax und die Steuern niedrig sind. Deshalb führt der Wettbewerb zwischen Finanzzentren tendenziell zu niedrigeren Steuern (race to the bottom), während in Rechtsbereichen, wo der Brüssel-Effekt stärker wirkt, sich die strengeren Regeln durchsetzen (race to the top).

Obwohl der Brüssel-Effekt nur "ein unbeabsichtigtes Nebenprodukt" der Regulierung des EU-Binnenmarkts ist, wie Bradford schreibt, verschaffe er Europa enorme Vorteile. Er "führt zu einer beachtlichen 'Europäisierung' vieler wichtiger Aspekte des globalen Wirtschaftens".

Außerdem ist der Effekt billig: In Drittstaaten muss die EU die Durchsetzung ihrer Vorschriften nicht selbst kontrollieren. Das tun die Konzerne oder ausländische Regulierungsbehörden aus eigenem Interesse und auf eigene Kosten.

Das Wichtigste ist aber, dass die EU die Regeln unilateral setzen kann. Sie muss mit niemandem verhandeln und braucht auch keine internationalen Organisationen, um die Regeln durchzusetzen.

Der EU ist dies durchaus bewusst. Michel Barnier, der Brexit-Beauftragte der EU-Kommission, sagte in einer Rede: "Diese Entscheidungsautonomie erlaubt es uns, Standards für die gesamte EU zu setzen und zuzuschauen, wie diese Standards oft weltweit übernommen werden. Das ist die normative Macht der Europäischen Union oder das, was häufig 'Brüssel-Effekt' genannt wird."

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