Kohlekraftwerk mit rauchenden Schornsteinen und dampfenden Kühltürmen vor orangefarbenem Abendhimmel.
Der Energiecharta-Vertrag ermöglicht es Energiekonzernen, Staaten zu verklagen, damit Kohlekraftwerke länger laufen. (Foto: Martin Lisner/​Shutterstock)

Wir sind es gewohnt, dass Politikerinnen schöne Worte für den Klimaschutz finden und fossile Konzerne mit strahlenden Werbeanzeigen geloben, von nun an alles anders zu machen. Dabei verweisen sie auf das Paris-Abkommen und klopfen sich ordentlich dafür auf die Schulter, auf der UN-Klimakonferenz vor sechs Jahren die Welt gerettet zu haben.

Tatsächlich wären wir auf gutem Wege, wenn die in Paris getroffenen Vereinbarungen eingehalten würden. Aber immer, wenn es darum geht, konkrete Maßnahmen zu ergreifen, um die Klimakrise aufzuhalten und das Abkommen in die Tat umzusetzen, zerplatzen die rosaroten Seifenblasen der Versprechungen.

Das hat einerseits damit zu tun, dass weite Teile der Politik zu eng mit fossilen Konzernen verflochten sind, um ihnen wirklich ernsthaft neue Rahmenbedingungen zu setzen. Andererseits schützen alte neoliberale Abkommen und Verträge die Profitinteressen der fossilen Industrie und erschweren das Einhalten der Vereinbarung von Paris.

Milliardenklagen gegen Klimaschutz

Der Kohlekonzern RWE verklagt jetzt auf Grundlage eines dieser internationalen Verträge, des Energiecharta-Vertrags, die Niederlande. Das Land will im Jahr 2030 aus der Kohle aussteigen. RWE hat dort 2015, schon mitten in der Klimakrise, ein neues Kohlekraftwerk in Betrieb genommen und möchte für das Abschalten mit 1,4 Milliarden Euro entschädigt werden.

Porträtaufnahme von Pia Eberhardt.
Foto: CEO

Pia Eberhardt

ist Politik­wissen­schaft­lerin und arbeitet für die in Brüssel ansässige lobby­kritische Organisation Corporate Europe Observatory (CEO).

 

Geklagt wird aber nicht vor einem niederländischen oder europäischen Gericht, sondern in einem parallelen Rechtssystem für Konzerne: einem privaten Schiedsgericht. Die Verfahren laufen meist hinter verschlossenen Türen ab und gehen häufig zugunsten der Konzerne aus.

Der Energiecharta-Vertrag wurde vor gut 25 Jahren ins Leben gerufen. Damals war das Ziel, die Investitionen von Firmen wie RWE, Shell oder BP in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion zu schützen.

Die Wurzeln der Sondergerichte für Konzerne liegen aber im Kolonialismus. In den 1960er Jahren wurden sie entwickelt, um das Vermögen der Kolonisatoren in den von den Industrienationen unabhängig gewordenen Ländern des globalen Südens zu schützen – so erklärt Wirtschaftsexpertin Tonny Nowshin aus Bangladesch die Ursprünge.

Heute schützt der Energiecharta-Vertrag die Energiekonzerne vor demokratisch beschlossenen Klimaschutzmaßnahmen und torpediert damit alle Versuche, der Erfüllung des Paris-Abkommens näherzukommen. Der Vertrag droht die Erfolge der weltweiten Bewegung für Klimagerechtigkeit zunichtezumachen.

Christina Schliesky
Foto: privat

Christina Schliesky

ist Schülerin und Aktivistin bei Fridays for Future und im Bündnis Alle Dörfer Bleiben, in dem sich Betroffene aller Braun­kohle­reviere in Deutschland gemeinsam gegen Zwangs­umsiedlungen und Klima­zerstörung wehren.

Letzte Woche errechneten die Journalist:innen von Investigate Europe erstmals, wie viel Geld dabei auf dem Spiel steht: 344 Milliarden Euro – das sind 660 Euro pro Einwohner:in.

Das ist der Wert der fossilen Infrastruktur – also von Kohlekraftwerken, Pipelines oder Flüssiggasterminals – die in der EU, der Schweiz und Großbritannien unter den Schutz des Energiecharta-Vertrags fallen.

Anders gesagt: der Wert zukünftiger Schadenersatzforderungen, die Europa drohen, wenn es Kohle, Öl und Gas tatsächlich ein Ende bereitet. Und da klagende Investoren nicht nur den Wert ihrer Infrastruktur, sondern auch die entgangenen Gewinnerwartungen geltend machen können, könnte die tatsächliche Klagesumme noch viel höher sein.

Angesichts der astronomischen Summen reibt sich einer der in solchen Verfahren oft ernannten Schiedsrichter im Interview mit Investigate Europe schon einmal die Hände und sagt dem Energiecharta-Vertrag eine goldene Zukunft voraus.

"Zombie-Klausel" macht Austritt unwirksam

Derzeit sammeln Umweltverbände und Klimabewegung Unterschriften für einen gemeinsamen Ausstieg aller EU-Staaten aus dem Energiecharta-Vertrag.

Kathrin Henneberger
Foto: privat

Kathrin Henneberger

ist eine grüne Energie- und Klima­politikerin aus dem Rheinischen Braun­kohle­revier. Als Autorin schreibt sie regelmäßig für Klima­reporter° und andere Medien. Sie ist als Projekt­koordinatorin beim Verein Institute of Environmental Justice tätig.

Zwar können einzelne Länder, wie Italien es vorgemacht hat, auch allein aus dem Vertrag aussteigen, sind dann aber mit der sogenannten Zombie-Klausel konfrontiert. Das bedeutet: Die Interessen der fossilen Konzerne werden auch nach dem Austritt für weitere 20 Jahre geschützt.

Das ist zu spät, um die Welt noch vor einer Klimakatastrophe zu bewahren. Denn die Konzerne werden während dieser 20 Jahre immer aggressiver versuchen, den Energiecharta-Vertrag zu nutzen, um möglichst viel Geld von der öffentlichen Hand zu erhalten.

Um das zu verhindern und die Zombie-Klausel zu umgehen, müssen die Europäische Union und alle 27 EU-Staaten gleichzeitig austreten und in einem gemeinsamen Austrittsvertrag die Anwendung der Klausel innerhalb der EU ausschließen. Nur dann kann es echten Klimaschutz in Europa geben.

Eine klimagerechte Welt kommt nicht von allein

Der Energiecharta-Vertrag wurde von einem Wirtschaftssystem geschaffen, das die kurzfristigen Profite großer Konzerne über das Allgemeinwohl stellt. So ein Vertrag ist kein in Stein gemeißeltes Naturgesetz und sollte in einem demokratischen Rechtsstaat jederzeit auf den Prüfstand gestellt, reformiert oder abgeschafft werden können.

Das geschieht aber nicht von allein. Dafür braucht es wieder einmal den Druck eines breiten Bündnisses aus Zivilgesellschaft und progressiven Verbündeten in der Politik.

Am Ende des Tages wird ihr Erfolg darüber entscheiden, ob wir die Klimakrise noch aufhalten können oder nicht. Auf geht's!

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