Einige Flaschen Alkohol verschiedener Art von Rum bis Bier, davor mehrere Sorten Tabletten.
Eine teure Abhängigkeit nur mit teuren Pillen bekämpfen? Kann auf die Dauer nicht gutgehen. (Foto: Susan Buck/​Public Domain Pictures)

Klimareporter°: Frau Kemfert, die EU-Kommission hat ihren "Green Deal" für Klima- und Umweltschutz vorgestellt. Wird die Europäische Union damit wieder die internationale Öko-Vorreiterin, die sie früher einmal war?

Claudia Kemfert: Die Richtung stimmt. So lässt sich das Versäumte der letzten zehn Jahre aufholen. Leider haben wir in Europa wertvolle Zeit vergeudet. Um Vorreiter zu werden, müssen wir die Ziele jetzt beherzt umsetzen – und deutlich nachschärfen.

Die Rede ist von einer Billion, also 1.000 Milliarden Euro, die im Rahmen des grünen Deals ausgegeben werden sollen. Eine gigantische Summe. Trotzdem: Wird das reichen?

Klingt gigantisch, ist aber vergleichsweise wenig. Diese Summe gibt Europa in zwei Jahren allein für fossile Subventionen und Energieimporte aus. Wir investieren also mehr in die Klimaschädigung als in den Klimaschutz.

Das ist widersinnig und muss sich dringend ändern. Im Bild gesagt: Wir dürfen uns nicht wundern, dass das Kopfschmerzmittel so teuer ist, solange wir ständig teuren Schnaps kaufen. Jeder Euro weniger für fossile Energien spart dreifach Geld, denn so verringern wir nicht nur die direkten Ausgaben, sondern auch die Folgekosten des Klimawandels und schaffen zudem eine wachsende nachhaltige Wirtschaft und neue grüne Jobs.

Wohin muss das Geld fließen?

Nicht mehr in die fossile Industrie. Stattdessen in den Ausbau der erneuerbaren Energien, in die energetische Gebäudesanierung samt dezentralen Prosumern, in die Stärkung des Schienenverkehrs und die Elektromobilität sowie klimaschonende Schiffs- und Flugtreibstoffe.

Die EU-Kommission will das Klimaschutzziel für 2030 verschärfen – statt 40 Prozent Emissionsreduktion gegenüber 1990 sollen es 50 bis 55 Prozent werden. Bringt das die EU auf den Pfad zur Klimaneutralität bis 2050?

Durchaus, aber nur wenn diese Ziele auch erreicht werden. Bislang tut sich ja gerade Deutschland damit ja ziemlich schwer. Es fehlt an Kontrollinstanzen. Wir müssen die Zielerreichung durch ein europäisches Klimagesetz sicherstellen. Es braucht jährliche Überprüfungen und entsprechende Maßnahmen bei Nichterfüllung.

Klimaschützer fordern sogar minus 65 Prozent bis 2030.

Minus 65 Prozent würden uns näher an das in Paris vereinbarte Klimaziel bringen. Sinnvoll wäre es, ein CO2-Budget festzulegen – also die maximale Emissionsmenge, die Europa bis 2050 noch ausstoßen darf. Je schneller wir die Emissionen reduzieren, desto wahrscheinlicher erreichen wir das Klimaziel.

Claudia Kemfert
Foto: Daniel Morsey

Claudia Kemfert

leitet den Energie- und Umwelt­bereich am Deutschen Institut für Wirtschafts­forschung (DIW) in Berlin. Seit 2016 ist sie Mitglied im Sach­verständigen­rat für Umwelt­fragen, der die Bundes­regierung berät. Sie ist Kuratoriums­mitglied von Klimareporter°.

Was könnte die internationalen Klimaverhandlungen sonst voranbringen? Bisher steigen die Emissionen global ja immer noch an, und Fortschritte kommen quälend langsam.

Wir brauchen eine Koalition der Willigen, die einen Wettbewerb an klugen Lösungen und Maßnahmen startet. Was ist technisch und wirtschaftlich möglich? Wer hat die besten Ideen? Wer erreicht als erster das Ziel?

Auf Städteebene gibt es ja bereits solche Allianzen. Wir sind am Beginn des disruptiven Wandels hin zu mehr Klimaschutz. Elektromobilität kommt, erneuerbare Energien werden immer billiger. Fossile Energien erfahren gleichzeitig eine zunehmende Abwertung. Es beginnt das Jahrzehnt des fossilen Schlussverkaufs.

Passt das aktuelle Klimapaket der Bundesregierung denn zu den hohen Ambitionen auf EU-Ebene?

Nicht wirklich.

Was konkret müsste nachgebessert werden? Die neue SPD-Führung fordert ja auch ehrgeizigere Maßnahmen.

Es ist klar, was zu tun ist. Aber offensichtlich fehlt der echte Wille. Um die Emissionen wirklich schneller zu senken, muss man in allen Bereichen nachbessern.

Das Paket liegt im Vermittlungsausschuss von Bundesrat und Bundesrat. Was kann da noch herausgeholt werden?

Nicht viel, fürchte ich. Wahrscheinlich etwas höhere CO2-Preise, zudem – hoffentlich – mehr Geld für Schienenverkehr. Die Chance für mehr Ambition wurde diesmal leider vertan.

Wie schätzten Sie den Rest des EU-Deals ein? Es geht ja auch um den Artenschutz, eine grünere Landwirtschaft, umweltfreundlichere Industrieproduktion.

Ein Anfang ist gemacht. Mehr auch nicht. Offenbar braucht die Politik noch mehr Druck aus der Bevölkerung. Je mehr Menschen sich engagieren, desto mehr wird hier in Gang kommen.

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