Sitz der EU-Kommission mit einem dreisprachigen Banner:
Als die EU-Kommission von Ursula von der Leyen ihr Amt antrat, wurde ein neues Banner am Berlaymont-Gebäude angebracht: "Für eine Union, die die Messlatte höher legt". (Foto: Łukasz Kobus/EU)

Fit for 55: Seinen Namen trägt das Konglomerat aus insgesamt zwölf Gesetzesinitiativen, weil es dazu führen soll, dass die Europäische Union ihre CO2-Emissionen bis 2030 um 55 Prozent im Vergleich zu 1990 reduziert.

Auf dieses Ziel haben sich die Staats- und Regierungschefs der EU schon im Dezember 2020 geeinigt und sind damit weit unter den Forderungen des Europaparlaments und zivilgesellschaftlicher Organisationen geblieben. Diese hatten zwischen 60 und 65 Prozent und zum Teil noch mehr gefordert, aber nicht einmal das Parlament konnte sich durchsetzen.

Dabei haben die Kritiker recht, denn 55 Prozent bis 2030 sind einfach zu wenig, um die EU auf einen Pfad zur Einhaltung der Pariser Klimaziele zu bringen.

Unter diesem ungünstigen Vorzeichen eines zu schwachen Ziels steht also auch das Fit-for-55-Paket der EU-Kommission. Immerhin könnten aber die Maßnahmen selbst, die vorgeschlagen werden, dazu führen, dass wir in Europa bis 2030 doch mehr als 55 Prozent erreichen und vielleicht gerade noch so den "Zug nach Paris" erwischen.

Womöglich wichtigster Bestandteil des Fit-for-55-Pakets sind die Vorschläge zur Novellierung des europäischen Emissionshandels sowie der sogenannten Lastenteilung in den Sektoren, die nicht vom Emissionshandel abgedeckt sind.

Emissionshandelsreform beschleunigt Kohleausstieg

Was den Emissionshandel angeht, so möchte die Kommission die schon bei der ersten Reform 2019 eingeführte Marktstabilitätsreserve ausbauen, um einmalig 117 Millionen Zertifikate aus dem Markt zu nehmen. Der sogenannte lineare Reduktionsfaktor soll fast verdoppelt werden: 4,2 Prozent der gehandelten CO2-Emissionsrechte sollen jedes Jahr aus dem Markt genommen werden, zurzeit sind es 2,2 Prozent.

Ab 2026 soll außerdem die unselige Praxis der kostenlosen Zuteilung von Zertifikaten beendet werden. Dann werden endlich auch die Luftfahrt voll und die maritime Schifffahrt teilweise in den Emissionshandel integriert.

Die Tragweite dieser Maßnahmen, falls Mitgliedsstaaten und Parlament sie beschließen sollten, ist erheblich. Das erkennt man schon, wenn man auf die Entwicklung des CO2-Preises schaut: Er hat sich in den letzten drei Jahren weit mehr als verdoppelt.

Diese Entwicklung ist sicherlich zu einem Großteil auf die Reformen zurückzuführen, die 2019 in Kraft traten. In den letzten Monaten wurden zudem die Erwartungen an das Fit-for-55-Paket eingepreist. Sie haben den Preis zwischenzeitlich der 60-Euro-Marke nahegebracht.

Seitdem hat der Kurs etwas nachgegeben, liegt aber seit Mitte Mai stabil über 50 Euro. Und die meisten Analysten sind sich einig, dass der langfristige Trend nach oben weist. Dies sind keine Spielereien mit Zahlen, sondern sie könnten sehr bedeutende Folge haben.

Spätestens ab einem CO2-Preis von 60 Euro wird sich die Kohleverstromung nicht mehr lohnen. Fit for 55 könnte also einen Kohleausstieg vor 2030 bedeuten – ganz ohne weitere Kohlekommissionen und vor allem ohne Entschädigungszahlungen für die Kohlekonzerne.

Erneuerbaren-Ziele nicht Paris-konform

Die EU-Kommission schlägt zwar auch eine Erweiterung des Emissionshandels auf den Straßenverkehr und den Gebäudebereich vor. Bedeutsamer wird aber der Lastenteilungs-Ansatz bleiben, in dessen Rahmen spezifische CO2-Reduktionsvorgaben für jeden EU-Mitgliedsstaat definiert werden.

Deutschland gehört zusammen mit Finnland, Schweden, Dänemark und Luxemburg zu den Staaten, die am meisten werden leisten müssen. Angesichts des chronischen Rückstands der Bundesrepublik bei der Verkehrs- und Wärmewende ist dies mehr als überfällig.

Auch die Idee, einen CO2-Grenzmechanismus einzubauen, ist richtig und muss noch weitergehen. Klimaschutz muss zum zentralen Inhalt der europäischen Handelspolitik werden. Handelsvereinbarungen darf Europa nur noch mit Staaten eingehen, die mindestens ebenso ambitioniert wie die EU beim Klimaschutz sind.

Porträtaufnahme von Matthias Willenbacher.
Foto: Wiwin

Matthias Willenbacher

Der studierte Physiker gründete in den 1990er Jahren Juwi, einen Projektentwickler für Erneuerbaren-Anlagen, in dessen Vorstand er bis 2015 war. Heute ist er Geschäftsführer der nachhaltigen Investing-Plattform Wiwin.

Enttäuschung macht sich hingegen bei mir breit, wenn ich auf die Erneuerbare-Energien-Richtlinie blicke.

Sicherlich, die vorgesehene Erhöhung auf einen 40-Prozent-Anteil der Erneuerbaren am Endenergieverbrauch innerhalb von neun Jahren ist eine Herausforderung – gerade für Deutschland, das immer noch bei 17 Prozent herumdümpelt.

Aber das Ziel ist einfach nicht ausreichend. Um das Paris-Abkommen zu erfüllen, müssen wir spätestens 2035 bei 100 Prozent Erneuerbaren sein. Den Löwenanteil dieses Ausbaus auf die Zeit nach 2030 zu verschieben – das ist wieder genau die unselige Haltung, die das Bundesverfassungsgericht vollkommen zu Recht der Bundesregierung angekreidet hat. Wer so vorgeht, handelt nicht seriös.

Ein anderes Problem ist, dass die Kommission einfach nicht auf Biokraftstoffe verzichten will. Dabei ist längst klar, dass sie keine Zukunft haben, und zwar auch, wenn sie synthetisch hergestellt werden. Ihre Energiebilanz ist einfach zu schlecht.

In Deutschland wird sich einiges ändern müssen

Gut finde ich dagegen die anspruchsvollen Ziele für den Anteil erneuerbarer Energien im Gebäudebereich – er soll 2030 bei 49 Prozent liegen – sowie bei den Nah- und Fernwärmenetzen, wo der Anteil jährlich um 2,1 Prozentpunkte steigen soll.

In Deutschland wird sich einiges ändern müssen, sollten diese Vorgaben so beschlossen werden, zumal auch das Ziel für die Einsparung von Energie von 32,5 Prozent auf 39 Prozent angehoben werden soll.

Auch dass durch eine Neuregelung der Herkunftszertifikate das Doppelvermarktungsverbot im Erneuerbare-Energien-Gesetz fallen könnte, finde ich richtig und zeitgemäß.

Tacheles!

In unserer Kolumne "Tacheles!" kommentieren Mitglieder unseres Herausgeberrats in loser Folge aktuelle politische Ereignisse und gesellschaftliche Entwicklungen.

Das Ziel, mittelfristig im Verkehrsbereich keine Fahrzeuge mehr zuzulassen, die CO2-Emissionen verursachen, ist richtig. In diesem Fall finde ich die Jahreszahl 2035 für den Ausstieg nicht so wichtig, auch wenn ich mir 2025, spätestens 2030 gewünscht hätte.

Ich bin mir sicher: So oder so wird die klare Botschaft "In Zukunft keine Verbrenner mehr!" im Markt einen Boom bei Elektrofahrzeugen auslösen, der den Umbruch viel stärker beschleunigt, als die Politik sich das vorstellen mag.

Die von der Kommission vorgeschlagene überarbeitete Energiesteuerverordnung und verschärfte CO2-Flottenvorgaben werden diese Revolution im Pkw-Bereich zusätzlich beschleunigen.

Insgesamt kann man, wie so oft, das Glas für halb leer oder halb voll halten. Gemessen an dem, was erwartet werden konnte, fällt mein Fazit positiv aus. Ich setze darauf, dass durch die Vorgaben eine selbsttragende Dynamik in den Markt kommt, die zu einer Zielüberfüllung führt.

Viel kommt jetzt darauf an, dass das traditionell progressivere Europäische Parlament in den Verhandlungen mit den Mitgliedsstaaten gestützt wird und dass Deutschland sich nicht wieder – wie beim "Clean Energy Package" oder bei der langfristigen Klimastrategie – mit konservativen und rechtspopulistischen Regierungen zusammentut, um die Vorschläge aufzuweichen.

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