Baustelle des Gebäudes, in dem das niederländische Parlament ab 2020 vorübergehend untergebracht sein wird
Baustelle des Gebäudes, in dem das niederländische Parlament ab 2020 vorübergehend untergebracht sein wird. (Foto: Tineke Dijkstra/​Wikimedia Commons)

Die Geschichte klingt fast zu schön, um wahr zu sein. Eine kleine Umweltorganisation verklagt die Regierung der Niederlande auf mehr Klimaschutz. Die Klimaklage ist erfolgreich. Die sechstgrößte Volkswirtschaft Europas wird vom Gericht dazu verpflichtet, ihre CO2-Emissionen schneller zu reduzieren. David gewinnt gegen Goliath. Die Regierung legt nun – am vergangenen Freitag – ein anspruchsvolles Maßnahmenpaket vor. Viele Medien berichten. Die Niederlande sind auf dem Weg zum Klimavorreiter.

Die Geschichte lässt sich aber auch anders erzählen. Sie ist dann sehr viel komplizierter und sehr viel weniger schön. Es geht dann um Kämpfe, die immer weitergehen, auch wenn sie längst gewonnen sind. Es geht um Tricksereien und um Zeit, die auf dem Papier gekauft wird, um spürbare Maßnahmen weiter in die Zukunft zu schieben.

Ende Juni 2015, vor genau vier Jahren, verurteilte das Bezirksbericht Den Haag die niederländische Regierung dazu, den Klimaschutz nicht weiter auf die lange Bank zu schieben. Der CO2-Ausstoß des Landes, so das Urteil, muss schneller als geplant sinken.

Geklagt hatte die niederländische Umwelt-Stiftung Urgenda, die sich die Entwicklung einer nachhaltigen Gesellschaft zum Ziel gesetzt hat. Die Stiftung repräsentierte vor Gericht nicht nur sich selbst, sondern auch fast 900 Bürger.

Die Kläger beriefen sich unter anderem auf die internationalen Menschenrechte und auf die niederländische Verfassung, die den Staat verpflichtet, die Bürger zu schützen und das Land bewohnbar zu halten.

Das Urteil war historisch. Es war das erste Mal, dass sich Klimaschützer erfolgreich vor Gericht durchsetzen konnten, um Regierungen zu mehr Klimaschutz zu zwingen.

Laut Urteil müssen die Niederlande ihre CO2-Emissionen bis 2020 um mindestens 25 Prozent gegenüber 1990 senken. Bislang angepeilt waren lediglich 17 Prozent – obwohl das offizielle Reduktionsziel bei minus 30 Prozent lag.

So hatte es die Regierung schon 2007 festgelegt. Und dann nichts unternommen, um das Ziel auch zu erreichen. Das ist "rechtswidrig", urteilte das Gericht.

Allerdings konnte sich Urgenda nicht mit allen Forderungen durchsetzen. Ursprünglich wollte die Stiftung eine noch höhere Reduktions-Zielmarke als die nun festgeschriebenen 25 Prozent erreichen. Dem gaben die Richter jedoch nicht statt.

Tricks und Kniffe statt Klimaschutz

Das war 2015. Nun hätte die niederländische Regierung fünf Jahre Zeit gehabt, um die Lücke von acht Prozentpunkten mit zusätzlichen Maßnahmen zu schließen.

Vor allem beim Ausbau der Erneuerbaren hat das Land großen Nachholbedarf. Es bezieht nur zwölf Prozent seines Stroms aus regenerativen Quellen (Stand 2016), beim gesamten Energieverbrauch sind es sogar nur sechs Prozent.

Doch die niederländische Regierung ließ die Zeit erneut ungenutzt verstreichen. Untätig war sie dennoch nicht. Ihre Handlungen waren aber eher auf das Verhindern als das Ermöglichen gerichtet.

Zum einen ging sie gegen das Urteil vor. Sie legte Revision ein – und verlor auch diese. Im Oktober 2018 bestätigte das Zivilgericht in Den Haag das Urteil der Vorinstanz und damit die Zielmarke von "mindestens 25 Prozent" Minderung gegenüber dem Niveau von 1990.

Auch gegen dieses Urteil legte die Regierung Berufung ein. Die Sache liegt nun beim Obersten Gericht in Den Haag.

Zum Zweiten änderte die Regierung 2016 die Art und Weise, wie sie ihre Emissionen zählt. Plötzlich waren die Niederlande ihrem Klimaziel für 2020 ein großes Stück nähergekommen – ohne dafür etwas zu tun.

So wurde die Klimawirksamkeit des Treibhausgases Methan gemäß neuen Berechnungen des Weltklimarats IPCC höher eingeschätzt. Damit fallen für das Jahr 1990 nach der neuen Zählweise höhere Emissionen an als bisher. Man startet bei einem höheren Referenzwert und die erreichten Einsparungen erscheinen dann größer.

Auch an ihrer Prognose für die Entwicklung bis 2020 nahm die Regierung Änderungen vor. Sie rechnete jetzt mit höheren Ökostromimporten als bislang – und vor allem mit einem niedrigeren Energieverbrauch, etwa durch milde Winter.

Mit diesen Kniffen kam für das Zieljahr 2020 quasi von allein ein geringerer Treibhausgas-Ausstoß als zuvor heraus – ganz ohne Klimaschutzanstrengungen. Statt der angepeilten 17 Prozent Minderung war somit ein Minus von 23 Prozent in Reichweite, zumindest theoretisch.

Und zum Dritten entwarf die Regierung neue Klimapläne – diesmal aber für das Jahr 2030. Auch dies verschafft ihr erst einmal mehr Zeit, schließlich sind es noch über zehn Jahre bis dahin.

"Eine Menge guter Punkte"

Das Ergebnis ist das jetzt vorgelegte, als besonders ambitioniert präsentierte Klimapaket. Zum Jahr 2020 sagt das Papier nichts. Es geht nur um 2030. Bis dahin soll der CO2-Ausstoß des Landes um die Hälfte reduziert werden, wiederum im Vergleich zu 1990.

Aufgelistet ist ein ganzes Bündel an Maßnahmen, etwa die Stilllegung der fünf Kohlekraftwerke in den kommenden zehn Jahren, wie sie schon im Koalitionsvertrag der jetzigen konservativ-liberalen Regierung steht. Für die Industrie soll 2021 eine CO2-Abgabe eingeführt werden, die zunächst mit 30 Euro pro Tonne startet und dann auf 150 Euro pro Tonne steigen soll.

Auch die Förderung von E-Autos ist vorgesehen. Wie in Dänemark sollen ab 2030 alle neu verkauften Autos elektrisch sein. Wer sein Haus saniert oder sich Solarpaneele aufs Dach packt, soll Zuschüsse erhalten. Auch in der Landwirtschaft sind Fördermaßnahmen für klimafreundlichere Methoden vorgesehen.

Alles in allem schätzt die Regierung die Kosten der Maßnahmen auf bis zu zwei Milliarden Euro pro Jahr. Den Verbrauchern verspricht sie eine Entlastung bei den Aufwendungen für Energie von durchschnittlich 100 Euro jährlich pro Haushalt.

Gedauert hat es rund ein Jahr, bis das Paket stand. Viele Interessengruppen wurden dabei eingebunden. Dadurch hat die Regierung die gesellschaftliche Akzeptanz der Maßnahmen abgesichert. Allerdings kam es auch zu etlichen Abschwächungen. Das erklärte Motto lautete: Nichts übers Knie brechen, Schritt für Schritt vorgehen, wie es in der Regierungsmitteilung heißt.

Ob so die 25 Prozent Minderung beim CO2-Ausstoß bis 2020 zu schaffen sind, die schon zwei Gerichtsinstanzen gefordert haben, ist mehr als fraglich. Die Klimakläger zeigen sich denn auch enttäuscht. "Die Regierung ignoriert das Urteil des Gerichts", sagt Marjan Minnesma von Urgenda.

Nach Berechnungen der Umweltstiftung müssten dafür im nächsten Jahr neun Millionen Tonnen CO2 zusätzlich eingespart werden. Das vorgelegte Paket werde in dem Zeitraum aber lediglich vier Millionen Tonnen schaffen, so Urgenda.

Joris Thijssen von Greenpeace Niederlande sieht hingegen "eine Menge guter Punkte" in dem Paket. Doch auch er übt Kritik: "Die Industrie wird immer noch zu wenig für ihre Umweltbelastung bezahlen."

Fest steht bislang nur eins: Es werden noch mehrere Jahre vergehen, bis klar ist, in welchem Umfang die Niederlande ihre Emissionen bis 2020 reduziert haben – also ob das von den Klimaklägern verlangte Viertel an Minderung geschafft wurde oder nicht.

Da die offiziellen Zahlen über den Jahresausstoß eines Landes immer erst mit Verzögerung vorliegen, wird es bis 2021 oder sogar 2022 dauern, bis Bilanz gezogen werden kann. Dann werden vier Jahre vergangen sein, seit der Weltklimarat IPCC in einem Sonderbericht zu dem Schluss kam, dass die Staaten beim Klimaschutz keine Zeit mehr verlieren dürfen.

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