Messung der Bodenatmung auf einem Feld: Mit "Carbon Farming" sollen sich künftig CO2-Zertifikate generieren lassen, wenn das CO2 nachweislich fünf Jahre lang gebunden wird. (Bild: Steve Bonnage/​Wikimedia Commons)

Einig sind sich Klimawissenschaftler seit Jahren. Um die Erderwärmung zu begrenzen, vielleicht sogar auf 1,5 Grad, reicht es nicht mehr, auf Nullemissionen zu kommen. Es muss auch CO2 aus der Luft entnommen werden – Carbon Dioxide Removal (CDR) oder CO2-Entnahme ist der Fachbegriff.

Langfristig soll es da um Milliarden Tonnen gehen. Ein im Juni veröffentlichter Bericht der Unternehmensberatung Boston Consulting Group und des Deutschen Verbandes für Negative Emissionen (DVNE) prognostiziert: Zum Einhalten der Pariser Klimaziele könnte es nötig sein, global ab 2050 bis zu neun Milliarden Tonnen CO2 pro Jahr zu entnehmen. Das kommt gut einem Viertel des heutigen weltweiten CO2-Ausstoßes gleich.

Ob das alles wirklich unvermeidbare Emissionen sind, sei dahingestellt. Europa jedenfalls könnte bis 2050 eine Entnahme-Industrie von jährlich 110 bis 220 Milliarden Euro aufbauen, prophezeit die Analyse. Dafür fehlten aber klare Richtlinien und regulatorische Maßnahmen, um CO2-Entnahme als essenziellen Teil der Klimapolitik anerkennen, wird zugleich beklagt.

Ohne klare Regeln kann CO2-Entnahme nicht funktionieren. Das zeigen die anhaltenden Probleme auf dem freiwilligen CO2-Markt. Dessen Zertifikate tragen für Unternehmen, die sich "klimaneutral" labeln wollen, oft das Risiko von Greenwashing in sich.

EU verbindet Green Deal mit CO2-Entnahme

Bereits Ende 2021 hatte die EU-Kommission im Zuge ihres "Green Deal" angekündigt, einen Zertifizierungsrahmen für Verfahren zur CO2-Bindung schaffen zu wollen, ein "Regulatory Framework for the Certification of Carbon Removals".

Es dauerte dann mehr als zwei Jahre, bis die EU-Gremien im vergangenen April eine Übereinkunft über einen freiwilligen Zertifizierungsrahmen für CO2-Entnahmetechnologien vorlegten, das "Carbon Removal Certification Framework" (CRCF).

Das Bundeswirtschaftsministerium begrüßte die Einigung. Vorgesehen sind danach unter anderem die sogenannte Kaskaden- oder Mehrfachnutzung von Biomasse sowie robuste Regeln gegen die Doppelzählung von Zertifikaten ("Double Counting"), wie das Ministerium lobte.

Auch die strenge Registrierung der Entnahme-Zertifikate, wiederkehrende Kontrollen und die zwingend nötige Zusätzlichkeit der Klimamaßnahmen stärkten die Verlässlichkeit des Rahmenwerks, betonte das Haus von Minister Robert Habeck (Grüne).

Als zertifizierbar laut dem Rahmenwerk sollen dabei gelten:

  • die Verbrennung von Biomasse und anschließende CO2-Speicherung (BECCS) sowie die direkte CO2-Abscheidung aus der Luft mit nachfolgender Speicherung (DACCS). Beide Technologien sollen das Treibhausgas für mehrere Jahrhunderte festlegen.
  • die stoffliche CO2-Bindung, beispielsweise in langlebigen Produkten oder Bauten. Diese Bindung muss nachweislich für mindestens 35 Jahre bestehen.
  • CO2-Entnahme und -Minderung von Emissionen aus Böden, darunter die Wiedervernässung entwässerter Moorböden und Maßnahmen für sogenanntes Carbon Farming. Hier muss das CO2 nur für mindestens fünf Jahre gebunden sein.

Zertifizierungsrahmen noch nicht endgültig politisch bestätigt

Zum Problem für den Zertifizierungsrahmen wurde aber die sich schnell nähernde Europawahl im Juni dieses Jahres. Zwar habe das Europäische Parlament die im sogenannten Trilog mit der EU-Kommission und den Mitgliedsstaaten erzielte Einigung zum CRCF bestätigt – den endgültigen Text habe das Parlament vor der Wahl aber nicht mehr formal angenommen, räumt eine Sprecherin der Kommission auf Nachfrage ein.

Weil der EU-Ministerrat, die Vertretung der Mitgliedsstaaten, solche Einigungen üblicherweise erst nach dem Parlament bestätigt, sei der Zertifizierungsrahmen auch im Rat noch nicht verabschiedet, erklärt die Sprecherin weiter.

Wann es mit dem CRCF in den Entscheidungsgremien weitergeht, ist noch unklar. Das ist aber zumindest zeitlich gesehen kein großes Problem, denn bisher hat sich die EU nur auf einen politischen Rahmen für die freiwillige Zertifizierung von CO2-Entnahmen geeinigt. Dieser Rahmen muss noch durch konkrete Regelungen ausgefüllt werden.

Zuständig für diese Ausgestaltung ist eine schon 2022 geschaffene 70‑köpfige Expertengruppe.

Deren nächste Workshops und Meetings sind für den September und Oktober dieses Jahres terminiert. Die Expertengruppe selbst deutet in ihren Unterlagen an, dass die ersten Zertifikate frühestens 2026 ausgestellt werden könnten.

Vier Kriterien für eine "sichere" CO2-Entnahme

Dass die CRCF-Einigung in der jetzigen Form nur einen Rahmen darstellt, der noch mit konkreten Regelungen praktikabel gemacht werden muss, betont auch Veronika Strauss vom Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung (Zalf) in Müncheberg bei Berlin.

So soll die künftige Zertifizierung der CO2-Entnahmeverfahren auf der Basis sogenannter "QU.A.L.ITY"-Kriterien erfolgen, um ihre Klimawirkung zu sichern.

Zu den Kriterien gehört die "Quantifizierung", die Erfassung der CO2-Entnahmemengen. Gefordert wird zudem die "Additionality", die Zusätzlichkeit zu allen bestehenden Maßnahmen.

Drittes Kriterium ist die "Liability". Damit ist eine Art Haftung oder Verantwortlichkeit gemeint, mit der die langfristige Speicherung des entnommenen CO2 gesichert werden soll.

Schließlich muss die CO2-Entnahme als viertes Kriterium noch zur "Sustainability", zur Nachhaltigkeit, beitragen und weitere Ziele wie etwa den Schutz der Biodiversität berücksichtigen.

Was genau zu tun ist, um die Kriterien einzuhalten – wie etwa zu quantifizieren ist und wann eine Entnahme wirklich als zusätzlich gelten kann –, muss eben in der kommenden Zeit noch genau festgelegt werden, sagt Veronika Strauss. Auch sei zu klären, wie Entnahmen im Carbon-Farming-Sektor, die für lediglich fünf Jahre garantiert werden sollen, zu zertifizieren sind.

CO2 wirkt 20-mal so lange, wie das Zertifikat ausweist

"Während ein Zeitraum von fünf Jahren eine praktikable und planbare Zeitspanne in der Landwirtschaft darstellt, steht dem die durchschnittliche Verweildauer von CO2 in der Atmosphäre von 100 Jahren gegenüber. Diese Diskrepanz muss in Zertifikatsmodellen Berücksichtigung finden", erläutert die Expertin.

Sie sieht in dem Prozess aber auch Chancen. So könnten EU-weite Standards zur CO2-Entnahme für Vergleichbarkeit und Fairness unter den Ländern sorgen. Eine gute EU-Zertifizierung bringe auch mehr Transparenz und Glaubwürdigkeit, verglichen mit den von privaten Zertifizierungsunternehmen selbst definierten Standards, hebt Strauss hervor.

Das wiederum kann aus ihrer Sicht ein höheres Vertrauen bei den Zertifikatskäufern nach sich ziehen, dass mit den CO2-Entnahmezertifikaten auch tatsächlich ein entsprechender Klimaschutzeffekt verbunden ist.

Dass die Zertifizierung nach EU-Standards eine freiwillige bleiben soll, lasse aber auch die Vermutung zu, dass am Ende vorwiegend "aus wirtschaftlichen Beweggründen" entschieden wird, ob eine CRCF-Zertifizierung vorgenommen wird, warnt die Forscherin.

Mit den besseren Standards könnten die Entnahmekosten pro Tonne CO2 höher sein als nach selbst aufgestellten Standards, erläutert Strauss dazu. Damit würden die EU-Zertifikate wirtschaftlich unattraktiver für die Käufer.

"Zertifikate, die sicherer sind, könnten verdrängt werden"

Von solchen Entscheidungen hängt für die Expertin am Ende auch ab, welche CO2-Mengen per CRCF schließlich dauerhaft gebunden werden. Voraussagen seien daher schwierig und mit großen Unsicherheiten behaftet, betont Strauss.

Um den Stellenwert des CRCF zu erhöhen, schlagen Experten wie Matthias Honegger unter anderem vor, die CO2-Entnahme mit verpflichtenden sektorspezifischen Entnahmezielen zu verbinden. Nach Ansicht von Honegger, leitender Forscher beim Thinktank Perspectives Climate Research in Freiburg, bietet CRCF als Zertifizierungsrahmen allein kaum den nötigen Mehrwert gegenüber freiwilligen Zertifizierungsstandards oder bestehenden Anbietern für die freiwillige CO2-Kompensation.

Honegger wie Strauss arbeiten in Deutschland beim Projekt "CDR terra" mit, das im Auftrag des Bundesforschungsministeriums die Potenziale landbasierter CO2-Entnahme erkundet.

Befürchtungen unter den Wissenschaftlern gehen auch in die Richtung, dass im Falle einer uneingeschränkten Handelbarkeit der Entnahme-Zertifikate zwischen sehr unterschiedlichen Sektoren und Projekten Verdrängungseffekte eintreten können.

Honegger dazu: "Zertifikate aus der Land- oder Forstwirtschaft, die bezüglich der CO2-Entnahme als vergleichsweise unsicher gelten, aber sehr günstig zu generieren sind, könnten deutlich teurere, dafür aber sicherere CO2-Entnahme-Zertifikate aus der Industrie verdrängen oder ganz verhindern."

Ob angesichts all dieser Probleme der Plan aufgeht, 2026 mit den CRCF-Zertifikaten zu starten, muss abgewartet werden.