Die europäische Industrie steht vor enormen Herausforderungen: Abhängigkeiten in strategisch wichtigen Bereichen, hohe Energiepreise, zunehmend zersplitterte globale Märkte aufgrund geopolitischer Spannungen und heraufziehender Handelskonflikte.
Diese Probleme muss die Industrie Europas bewältigen, zugleich aber eine Jahrhundertaufgabe meistern: ihre Dekarbonisierung auf dem Weg zur Klimaneutralität. Um beiden Herausforderungen zu begegnen, stellte die Europäische Kommission nun den Clean Industrial Deal (CID) vor.
Als einen zentralen Motor für die Wirtschaft identifiziert die Kommission darin günstige Energiepreise. Diese liegen in der EU derzeit mehrfach über denen ihrer Mitbewerber in Asien und Amerika. Das bringt für die europäische Industrie einen spürbaren Standort- und Wettbewerbsnachteil mit sich.
Ergänzend zum CID legte die EU-Kommission deshalb einen Aktionsplan für günstige Energie vor. Er enthält eine Reihe von Maßnahmen zur Senkung der Energiepreise, darunter eine Verbesserung des Zusammenspiels des europäischen Stromnetzes verschiedener Mitgliedsstaaten, den Ausbau der sogenannten Interkonnektoren, also der Stromleitungen zwischen EU-Staaten, sowie die verstärkte Anwendung von sogenannten "Tripartite-Verträgen" im Stromsektor, das sind Langfristverträge zwischen Staat, Energieproduzenten und energieintensiver Industrie.
Neben diesen grundsätzlich begrüßenswerten Aspekten enthalten der CID und der Energie-Aktionsplan jedoch auch problematische fossile Weichenstellungen, die das Potenzial haben, der europäischen Industrie den Transformationspfad zu verbauen. Anstatt auf eine Verlängerung fossiler Geschäftsmodelle zu setzen, sollte sich die EU vor allem auf Maßnahmen zur Dekarbonisierung und Effizienzsteigerung konzentrieren.
EU-Steuergeld für Flüssigerdgas aus den USA?
Das betrifft gerade auch den Gasmarkt. Ein zentrales Element des Energie-Aktionsplans ist es, die Erdgasnachfrage europäischer Importeure zu bündeln, um die Marktmacht der EU zu steigern und Preise zu stabilisieren. Weiter sollen auch vermehrt Langfristverträge abgeschlossen werden.
Tatsächlich kann ein Zusammenfassen der Nachfrage über Plattformen wie Aggregate EU zur Preisstabilisierung beitragen. Allerdings sollten dabei nur Anbieter berücksichtigt werden, die die Vorgaben der europäischen Methanverordnung einhalten. Wegen der sinkenden Gasnachfrage und der einzuhaltenden Klimaziele ist der Abschluss von Langfristverträgen für fossiles Gas hingegen kritisch zu betrachten.
Frederick Coulomb
ist Referent für internationale Energiepolitik bei der Deutschen Umwelthilfe (DUH). Zuvor war er unter anderem als parlamentarischer Assistent im EU-Parlament tätig, wo er sich hauptsächlich mit europäischer Energie- und Industriepolitik befasste.
Darüber hinaus sollen die EU beziehungsweise ihre Mitgliedsstaaten laut Energie-Aktionsplan verstärkt in fossile Exportinfrastrukturen in Drittstaaten investieren. Das bedeutet, dass EU-Mittel beispielsweise in den Bau eines LNG-Terminals in den USA fließen würden.
Dieser Vorstoß ist offensichtlich im Kontext des sich anbahnenden Handelskonflikts zwischen den USA und der EU zu sehen und als Beschwichtigungsangebot der EU-Kommission an Donald Trump. Die Forderung nach EU-Investitionen in fossile Infrastrukturen in Drittstaaten ist allerdings fatal. Denn die Investitionen würden nicht nur die globalen Klimaziele gefährden, sondern auch zu fossilen Überkapazitäten führen.
Der nächste mehrjährige Finanzrahmen der EU tritt erst 2027 in Kraft. Frühestens ab diesem Zeitpunkt wären Investitionen in externe LNG-Infrastrukturen aus dem EU-Budget möglich – es sei denn, bestehende Mittel würden umgewidmet. Knappheiten auf dem globalen LNG-Markt bestehen, wenn überhaupt, in den nächsten ein bis zwei Jahren, die Investitionen würden hier also keine Abhilfe schaffen.
Jede neue Infrastruktur, die erst in einigen Jahren in Betrieb geht, ist überdies wirtschaftlich höchst fragwürdig: Weltweit werden absehbar zahlreiche LNG-Projekte ans Netz gehen, was ohnehin zu einem Anstieg der verfügbaren Kapazitäten führt. Zusätzliche Investitionen der EU würden diese Entwicklung weiter verschärfen und das Risiko globaler Überkapazitäten massiv erhöhen.
Schließlich würde die EU mit dem Ausbau von LNG-Infrastrukturen in Drittstaaten wie den USA neue energiepolitische Abhängigkeiten zementieren. Das ist angesichts des erodierenden transatlantischen Verhältnisses und der Vorkommnisse der letzten Tage energie- wie sicherheitspolitisch leichtsinnig. Die EU sollte weder Wladimir Putin noch Donald Trump Mittel für ihre autoritäre Politik zur Verfügung zu stellen. Stattdessen sollte sie massiv in die Dekarbonisierung der Industrie investieren.
Förderung für fossilen Wasserstoff darf es nicht geben
Problematisch ist zudem die prominente Rolle, die der Clean Industrial Act fossilem Wasserstoff einräumt. Dieser Wasserstoff wird gewonnen, indem Erdgas in Wasserstoff und Kohlendioxid gespalten wird. Wird das CO2 dann mittels Carbon Capture and Storage (CCS) abgeschieden, wird er als blauer Wasserstoff bezeichnet. Durch hohe Abscheideraten des CO2 und die Minimierung von Methan-Emissionen soll dieser aus Erdgas hergestellte Wasserstoff "CO2-arm" werden.
Das ist zum einen aufgrund von Methanleckagen sowie geringer Abscheide- und Speicherraten äußerst fragwürdig. Zum anderen begünstigt blauer Wasserstoff die Fortsetzung und mitunter auch die Ausweitung fossiler Geschäftsmodelle.
Tabea Pottiez
ist Politikwissenschaftlerin und arbeitet als Referentin für Energie und Klimaschutz bei der Deutschen Umwelthilfe. Ihr Fokus sind Methan-Emissionen im Energiesektor und Perspektiven für den Erdgasausstieg.
Die Nutzung und besonders die finanzielle Förderung von sogenanntem CO2-armem Wasserstoff kann daher nicht als Klima-Transformation gelten. Die EU-Kommission sollte bei der ebenfalls im CID angekündigten Überarbeitung des Beihilferechts sicherstellen, dass Mitgliedsstaaten weder die Produktion noch die Nutzung von blauem Wasserstoff subventionieren dürfen. Auch für EU-Töpfe wie den angekündigten Wettbewerbsfähigkeits-Fonds sollte fossiler Wasserstoff nicht förderfähig sein.
Schließlich kündigt die Kommission im CID an, den ausstehenden Rechtsakt zur Definition von "CO2-armem" Wasserstoff zeitnah vorzulegen.
Die Vorgaben zu Methanemissionen und CO2-Abscheideraten müssen dabei aber so strikt wie möglich ausfallen. Der aktuelle Entwurf des Rechtsaktes würde es Nicht-EU-Produzenten ermöglichen, einen viel zu niedrigen Standardwert für Methan zu verwenden, statt Nachweise über Kontrollen und Messungen von Methanemissionen an ihrer Infrastruktur vorzulegen.
Das steht im Widerspruch zur EU-Methanverordnung, die 2024 vom Europäischen Parlament verabschiedet wurde und als großer Erfolg des Green Deal gilt. Das könnte dazu führen, dass Unternehmen, die bei der Produktion von fossilem Gas besonders viel Methan emittieren, daraus Wasserstoff oder Derivate produzieren und diese dann als "CO2-arm" in die EU exportieren – ein klimaschädlicher Etikettenschwindel und ein Nachteil für EU-Produzenten gegenüber Nicht-EU-Produzenten.
Gerechten Übergang gestalten – auch für Beschäftigte der Gasindustrie
Schließlich vermisst man im CID schmerzlich einen Just Transition Act, wie er von Gewerkschaften und Umweltverbänden im Vorfeld gefordert wurde. Ein solches Gesetz könnte sektorübergreifende Vorgaben für einen gerechten Übergang festlegen – etwa das Recht von Beschäftigten in betroffenen Industriezweigen wie der Gasindustrie auf Umschulung und Weiterbildung angesichts des schrittweisen Rückbaus der Branche.
Zudem könnte er sicherstellen, dass betroffene Arbeitnehmer:innen innerhalb ihrer Unternehmen in anderen Sparten weiterbeschäftigt werden. Ferner sollten Unternehmen verpflichtende Transitionspläne vorlegen müssen.
Dass es hier eine gesetzliche Regelung braucht, zeigt auch ein Vorgehen aus dem vergangenen Jahr, als die internationale Industriegewerkschaft IndustriAll ein freiwilliges Abkommen mit dem Arbeitgeberverband Eurogas auszuhandeln versuchte. Dieses scheiterte jedoch, weil Eurogas in letzter Minute einen Rückzieher machte.
Erste Analysen der Bundestagswahl zeigen, dass die extrem rechte AfD in Industrieregionen starke Zugewinne verzeichnen konnte. Vor diesem Hintergrund sollten die EU und ihre Mitgliedsstaaten eine Industriepolitik von unten kultivieren und einen gerechten Übergang gewährleisten – gerade dort, wo fossile und energieintensive Industrien stark verankert sind.
Gewerkschaften, Umweltverbände und Kommunen müssen deshalb aktiv in Gesetzgebungsprozesse eingebunden werden und echte Mitgestaltungsmöglichkeiten erhalten sowie substanziell am Umbau der Industrie beteiligt werden. Nur so lassen sich der industrielle Wandel als gesamtgesellschaftliches Projekt etablieren und Mehrheiten für die Energiewende sichern.