Klimaneutral werden? Viel Zeit ist nicht mehr. Deutschland hat bis Ende 2045 noch 21 Jahre. Die Europäische Union gibt sich fünf Jahre mehr bis Ende 2050. Dann soll Europa der "erste klimaneutrale Kontinent" des Planeten sein.

Der Weg dahin wird kein einfacher sein. Im Moment hat der europäische Klimapfad zwei Wegmarken: Mit dem "Green Deal" sollen die Treibhausgasemissionen bis 2030 um 55 Prozent sinken, gemessen an 1990. Die Klimaneutralität soll dann 2050 da sein.

Treibhausgasemissionen haben die unschöne Eigenschaft, dass ihre Reduzierung umso schwerer fällt, je näher die Null-Linie kommt. Die noch verbleibenden Emissionen gehören immer stärker zu den sogenannten schwer oder gar nicht vermeidbaren. Verglichen mit der Dekarbonisierung von Verkehr, Grundstoffindustrie oder Landwirtschaft ist der Kohleausstieg fast ein Kinderspiel.

 

Im vergangenen Februar schlug die EU-Kommission, dem Rat der Klimaforscher folgend, eine dritte Wegmarke vor: ein Zwischenziel für 2040. Dann sollen die Emissionen um mindestens 90 Prozent gesunken sein.

Die Mathematik sagt: Nach 2030 müssten in dem Jahrzehnt die Emissionen um 35 Prozentpunkte sinken und im Jahrzehnt nach 2040 dann "nur" noch um zehn Prozentpunkte.

Mit dem hohen Zwischenziel zollt die EU-Kommission der obigen Einsparlogik Tribut und will offenbar sicherstellen, dass 2050 die Klimaneutralität auch wirklich da ist.

Europa reißt sein Klimaziel 2030

So ein großer Einspar-"Brocken" von 2030 zu 2040 weckt aber auch Zweifel. Diese untermauert eine Studie, die jetzt von den Beratungsunternehmen Climate Desk und Future Camp Climate vorgelegt wurde. Auftraggeber sind die Spitzenverbände VKU und DIHK, die zahlreiche betroffene Unternehmen vertreten.

Die Arbeit bietet einen zahlenreichen Überblick über die klimapolitische Lage der EU. Aus dem Datenwust ragen ein paar Dinge hervor.

Ob das 2030er Ziel erreicht wird, hängt für die Studienautoren vor allem davon ab, ob die fünf großen Emittenten in der EU ihre Klimapflichten erfüllen, also Deutschland, Frankreich, Spanien, Polen und Italien.

Deren Emissionen sind so groß, dass sie ihre Probleme selbst lösen müssen, einen Ausfall kann die Staatengruppe mit den nächstgrößeren Emissionen nicht kompensieren, stellte Mitautor Andreas Wehrl von Climate Desk letzte Woche bei der Präsentation der Ergebnisse klar.

Die Rechnung geht so: Die großen Fünf stellen 66 Prozent, also zwei Drittel, der EU-Klimaemissionen. Auf die nächsten Fünf – Niederlande, Rumänien, Belgien, Tschechien und Griechenland – entfallen weitere 17 Prozent. Die restlichen 17 Länder teilen sich die restlichen 17 Prozent.

Wenn die fünf Großen nicht "liefern", können das die kleinen Länder nicht ausgleichen, selbst wenn sie weniger als erlaubt emittieren. Dazu sind ihre Mengen einfach zu gering.

Besondere Probleme bereitet dabei europaweit – wenig verwunderlich – der Straßenverkehr. Der Verkehr sei der Sektor, auf dem der Blick hauptsächlich liegen sollte, sagte Andreas Wehrl. Eine Dekarbonisierung in dem Sektor gelinge in Europa derzeit nur wenigen Ausnahmeländern – wie Norwegen, das zudem gar kein EU-Land ist.

Aber selbst im klimapolitischen Vorzeigebereich, dem Emissionshandel für Energiewirtschaft und Industrie ("ETS 1"), droht bis 2030 ein Zuviel an CO2. Um die minus 55 Prozent zu schaffen, müssten laut der Studie die Emissionen im ETS 1 jährlich um mehr als 65 Millionen Tonnen sinken. Derzeit liegt der Schnitt bei nur 46 Millionen Tonnen.

Offenbar ist im ETS 1 die Obergrenze, das sogenannte Cap, immer noch zu hoch bemessen und es gibt zu viele Ausnahmen, gerade bei kostenlosen Zuteilungen für die Industrie.

Läuft es weiter schlecht, bleiben allein in den Bereichen Verkehr, Gebäude und kleine Industrie, die über die sogenannte Effort Sharing Regulation und ab 2027 über den zusätzlichen Emissionshandel ETS 2 reguliert werden, mehr als 200 Millionen Tonnen nicht eingespartes CO2 "übrig", die dann bis 2040 zusätzlich eingespart werden müssen.

Kein Wunder, dass die Studie zu dem Schluss kommt: Derzeit reicht das Einspartempo nicht aus, um das EU-Ziel für 2030 zu erfüllen.

Ohne Deutschland sind die Klimaziele der EU nicht zu schaffen

Mit einem Anteil von etwa 20 Prozent in der EU ist Deutschland unter den großen Fünf der mit weitem Abstand größte Emittent. In der Studie heißt es dazu: Sollte Deutschland seine geplanten Emissionsminderungen nicht schaffen, hätte dies nachteilige Folgen für andere EU-Mitgliedsstaaten.

Was "nachteilige Folgen" sein können, erläuterte Wehrl bei der Präsentation etwas genauer. Deutschland habe eine Verantwortung in der EU, weil das Land einen so großen Anteil an der Wirtschaftsleistung, aber auch an den Emissionen habe, sagte der Analyst.

"Deswegen ist es wichtig, dass wir die Ziele einhalten können, die wir zusagen", betonte Wehrl. Ansonsten gefährde ein so großer Player die gesamte Erreichbarkeit der Ziele.

Es lässt sich auch klarer ausdrücken: Im europäischen Klimaschutz spielt Deutschland eine ähnliche Rolle wie China für den ganzen Globus. Scheitert Deutschland bei seinen Klimazielen, scheitert auch die EU.

Wer das Klimaziel 2030 verfehlt, schafft auch das 2040er Ziel nicht

Wie andere Klimastudien warnt auch die Arbeit für VKU und DIHK eindringlich davor, zu viele Emissionsminderungen, die bis 2030 nicht zu gelingen drohen, auf die Zeit danach zu verschieben.

Um das 2030er Ziel zu erreichen, muss die EU laut den Angaben ihre Treibhausgasemissionen im Schnitt um jährlich 125 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent senken. Von der Größe her sind das – zum Vergleich – die jährlichen Emissionen der deutschen Industrie.

Dekarbonisierung mit Erdgas funktioniert nicht, das ist einer der Gründe für Deutschlands Probleme. (Bild: Dontworry/​Wikimedia Commons)

Nach 2030 aber soll der Klimaschutz ja richtig Tempo aufnehmen. Um 2040 bei den minus 90 Prozent herauszukommen, müssen die EU-Länder dann jährlich rund 163 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent einsparen, rechnet die Studie vor.

Dieser Wert könnte sich aber auf jährlich mehr als 200 Millionen Tonnen erhöhen, wenn die Politik nicht bald zusätzliche Maßnahmen ergreife, um die 2030er Zielvorgabe zu erfüllen oder dem wenigstens nahezukommen.

"Das Problem, das wir bis 2030 sehen, wird danach noch sehr viel größer", warnte Andreas Wehrl. Zudem gehe es dann um Klima-Lösungen, die heute noch nicht zur Verfügung stünden, aber dann "in einiger Größe" gebraucht würden. "Da können wir an einen Punkt kommen, wo es uns überfordert", sagte der Klimaanalyst.

In der Studie selbst heißt es: Dass das 90-Prozent-Ziel für 2040 erreichbar ist, sei "sehr unwahrscheinlich".

Die warnende Botschaft teilen die auftraggebenden Verbände. Die Studie verdeutliche, dass das 90-Prozent-Ziel "extrem ambitioniert" sei und auf vielen optimistischen Annahmen beruhe, bekräftigte VKU-Geschäftsführer Ingbert Liebing, dessen Verband zahlreiche Stadtwerke vertritt.

Ein Blick auf die Wirklichkeit zeige, so Liebing, dass schon die Klimaziele für 2030 heute in vielen EU-Staaten einschließlich Deutschlands kaum erreichbar scheinen, gerade in Verkehr und Gebäuden. Eine Festlegung auf minus 90 Prozent 2040 wäre voreilig und riskant, erklärte Liebing.

EU baut massiv auf CO2-Entnahme

Die Warnung, die 90-prozentige Reduktion sei nicht realistisch, ist noch besser zu verstehen, schaut man darauf, wie die EU-Kommission sich das mit der Klimaneutralität vorstellt. Die Studie hat hier, wie betont wurde, keine eigenen Berechnungen angestellt und nur die EU-Daten übernommen. Aber das reicht auch.

So geht die Kommission davon aus, dass die EU-Länder von 2030 bis 2050 noch über ein Budget von 16 Milliarden Tonnen CO2-Äquivalent verfügen können. Tatsächlich aber werden in der Zeit 21 bis 24 Milliarden Tonnen emittiert, so eine weitere Annahme.

Wie kommt die EU dann auf die 16 Milliarden? Indem die CO2-Entnahme durch natürliche und technische Systeme auf fünf bis acht Milliarden Tonnen geschätzt wird. Ein Drittel bis ein Viertel der Klimaneutralität soll also nicht auf CO2-Minderung, sondern auf "negativen Emissionen" beruhen.

Die Größenordnungen, die die EU hier im Blick hat, wirken absurd. So sollen Landnutzungsänderungen bei Wäldern oder Mooren künftig europaweit jährlich 220 bis 230 Millionen Tonnen CO2 speichern. Fachleute auf dem Gebiet halten das für eine weitgehende Luftbuchung.

Die technische Entnahme soll laut EU auf jährlich 400 Millionen Tonnen hochgefahren werden, davon 350 Millionen Tonnen durch CO2-Abscheidung und -Speicherung, sprich CCS.

Was bedeuten die 90 Prozent für Deutschlands Klimaschutzgesetz?

Das jüngst verwässerte deutsche Klimaschutzgesetz hält bekanntlich an den beschlossenen Klimazielen fest: Bis 2030 sollen in Deutschland die Treibhausgasemissionen um 65 Prozent sinken, bis 2040 um mindestens 88 Prozent, Bezugsjahr ist wie immer 1990.

Auf den ersten Blick ist das weniger als das EU-Ziel. Die deutschen 88 Prozent seien allerdings ohne Landnutzungsänderungen und technische CO2-Entnahmen gerechnet, erklärte Birgit Schwenk, Unterabteilungsleiterin für nationale und europäische Klimapolitik im Bundeswirtschaftsministerium, bei der Studienpräsentation. Die 88 seien so nicht vergleichbar mit den 90 Prozent. Bei letzteren rechne die EU Speichertechniken ein.

Schwenk hält deswegen das 90-Prozent-Ziel für vereinbar mit den deutschen Klimapflichten. Eine abgestimmte Haltung der Regierung zum Vorschlag der EU-Kommission gebe es aber noch nicht. Gegen eine Verschärfung des deutschen Ziels aufgrund europäischer Vorgaben würde man sich allerdings "verwahren", sagte Schwenk.

 

Ob die 90 Prozent überhaupt Bestand haben, ist nicht geklärt. Die neue EU-Kommission, die noch nicht bestätigt ist, müsste die Empfehlung aus dem Februar gut finden und in die Gremien einbringen.

Zugleich muss die Europäische Union im kommenden Frühjahr für die Weltklimakonferenz 2025 in Brasilien ein neues verbindliches Klimaziel beschließen, das sogenannte NDC. Das soll nach den internationalen Vorgaben aber aufs Jahr 2035 ausgerichtet sein.

Dazu könnte man die 90 Prozent für 2040 gewissermaßen auf 2035 zurückrechnen. Oder das 2040er Ziel beerdigen und etwas "Realistisches" beschließen, das niemanden "überfordert". Irgendwie wird man das mit dem klimaneutralen Kontinent schon rechnerisch hinbekommen.