Porträtaufnahme von Hartmut Graßl.
Hartmut Graßl. (Foto: Christoph Mischke/​VDW)

Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrates erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Professor Hartmut Graßl, Physiker und Meteorologe.

Klimareporter°: Herr Graßl, gerade ist ein neuer Teilbericht des Weltklimarats erschienen, nämlich der von Arbeitsgruppe drei, die sich mit Klimaschutz-Strategien befasst. Haben wir noch eine reale Chance, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen?

Hartmut Graßl: Inzwischen ist es zum Standard geworden, vom 1,5-Grad-Ziel der Weltgemeinschaft zu reden, obwohl das Paris-Abkommen als Hauptziel der Klimapolitik als Vorgabe "wesentlich unter zwei Grad Celsius" festgesetzt hat.

Schon jetzt ist es, wie der Zwischenbericht des IPCC von 2020 zeigt, an Land durchschnittlich knapp über 1,5 Grad wärmer als zu vorindustriellen Zeiten. Für die ganze Erdoberfläche gilt das noch nicht.

Ihre Frage mit "Ja" für den globalen Mittelwert zu beantworten, heißt allerdings, dass vorübergehend ein "Überschießen" der 1,5-Grad-Marke eintritt, aber im Jahr 2100 durch die nachträgliche Entnahme von Kohlendioxid aus der Atmosphäre die 1,5 Grad wieder erreicht sein können.

Zu bedenken ist aber auch: Wer Luftverschmutzung erfolgreich bekämpft und damit zu Recht die Gesundheit von vielen von uns stärkt, der nimmt einen Dämpfer für die Erwärmung weg. Aerosole, die luftverschmutzenden Schwebeteilchen unter einem Mikrometer Durchmesser, kühlen die Erde um einige Zehntelgrad.

Das ist aus der öffentlichen Klimadebatte wieder fast völlig verschwunden. Wir können froh sein, wenn die Erwärmung unter zwei Grad Celsius bleibt und damit das Paris-Abkommen eingehalten wird.

Entsprechend viel Raum erhalten im Bericht die CO2-Senken wie Wälder und Moore. Für Deutschland bedeutet das 1,5 Grad-Ziel: Jährlich müssen mindestens 50.000 Hektar Moorböden wiedervernässt werden – eine Fläche so groß wie der Bodensee. In ihrer Dimension ist diese Aufgabe mit dem Kohleausstieg vergleichbar, schreiben unsere Gastautor:innen vom Greifswalder Moor-Centrum. Wie hoch schätzen Sie den Wert der Moore für das Klima ein?

Tatsächlich wird vor allem in Hochmooren weiter Kohlenstoff gespeichert und damit der CO2-Pegel über dem Moor gesenkt. Aber: Es entweicht das Sumpfgas Methan, das zweitwichtigste Gas beim zusätzlichen Treibhauseffekt.

Diejenigen, die eine Wiedervernässung von Mooren propagieren, wie sie gegenwärtig stark debattiert wird und auch im Koalitionsvertrag erwähnt ist, übergehen dieses Thema gern – auch die Moorforscher im Gastbeitrag erwähnen es nur am Rande.

Die Wiedervernässung muss diesen Aspekt beachten und Praktiken anwenden, die Methanemissionen und bei Niedermooren auch Lachgasemissionen minimieren. Geschieht das nicht, setzt man vor allem in den ersten Jahren der Wiedervernässung auf das falsche Pferd. Wie so oft sind die natürlichen Prozesse komplexer als anfangs gedacht.

Ganz entscheidend für den Erfolg der Moore wird tatsächlich sein, ob man auf den Flächen dieselben Einnahmen erzielen kann wie bisher, denn oft geht es um heutige Äcker. Die Frage ist also, ob der Verkauf von auf Moorböden anbaubarer Biomasse wie Schilf, vielleicht zusammen mit einem geldwerten Zertifikat für das gespeicherte CO2, die bisherige Wertschöpfung erreicht.

Der russische Angriffskrieg in der Ukraine hat die Energiepolitik in Deutschland stark in den öffentlichen Fokus gerückt. Haben Sie die Hoffnung, dass sich so am Ende die Energiewende beschleunigt?

Die Debatte beschleunigt schon jetzt die Energiewende, weil auch der bisher uninformierte oder nicht energiebewusste Bürger gelernt hat, dass der Übergang zu den erneuerbaren Energieträgern unser Land unabhängiger von unzuverlässigen oder unsere Demokratie bedrohenden Lieferanten fossiler Energieträger macht.

Das Osterpaket der neuen Regierung ist ein Teil dieser Beschleunigung der Energiewende, aber auch viele andere Länder der EU haben Ähnliches vor.

Der russische Angriff auf die Ukraine beschleunigt den Ausstieg aus der Nutzung fossiler Brennstoffe in vielen Ländern und erhöht damit die Wahrscheinlichkeit, dass das Paris-Abkommen eingehalten wird. Putins Angst vor Demokratien an den Grenzen Russlands macht diese energieautarker – und stößt hoffentlich ein Wiederverwerten der prinzipiell nicht erneuerbaren Metalle an, um auch diese nicht in der bisherigen Menge importieren zu müssen.

Und was war Ihre Überraschung der Woche?

In der politischen Zusammenfassung des schon angesprochenen jüngsten Weltklimaberichts wird zum ersten Mal der riesige Unterschied bei den Treibhausgasemissionen zwischen den Reichen und den Armen prominent erwähnt: Die zehn Prozent der Weltbevölkerung mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen sind für 34 bis 45 Prozent aller Emissionen verantwortlich und die ärmere Hälfte für nur 13 bis 15 Prozent.

In seiner Doktorarbeit an der Universität Ulm hat Tobias Orthen 2021 beschrieben, wie "die Reichen" zu besonderen Klimaschützern werden können und wie die Ungerechtigkeit der anthropogenen Klimaänderungen somit etwas gemildert werden könnte. Der Titel: "Klimawandel, Ungleichheit und Top-Emitter – Wirkungszusammenhänge und die Rolle des wohlhabenden Privatsektors für Klimaschutz und eine nachhaltige Zukunft". Klimareporter° sollte den Autor dazu interviewen.

Fragen: Jörg Staude

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