Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrates erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Professor Hartmut Graßl, Physiker und Meteorologe.
Klimareporter°: Herr Graßl, bis auf 47 Grad stiegen die Temperaturen in Indien und Pakistan in den letzten Tagen. Klimaforscher rechnen zwar seit Langem damit, dass bei anhaltendem CO2-Ausstoß Teile der Erde unbewohnbar werden, aber nicht, dass dies schon jetzt, bei einer Erderwärmung um durchschnittlich 1,2 Grad passiert. Haben sich die Forscher geirrt?
Harmut Graßl: Damit wir Menschen überleben können, muss die Feuchttemperatur wesentlich niedriger sein als unsere Körpertemperatur. Die Meteorologen messen schon lange diese Feuchttemperatur, indem sie einen benetzten Strumpf über den Temperaturfühler ziehen. Nähert sich die Feuchttemperatur der 37-Grad-Marke, besteht auch für Gesunde Lebensgefahr.
Wie hoch ist die Feuchttemperatur bei einer Lufttemperatur von 45 bis 50 Grad, wie jetzt für Teile Indiens und Pakistans in den kommenden Tagen vorhergesagt? Feuchttemperaturen über 30 Grad sind nach den Aussagen der Wetterdienste nicht dabei, sodass bei leichter Tätigkeit keine Lebensgefahr besteht.
Wer jedoch schon einmal eine Feuchttemperatur von 30 Grad erlebt hat, weiß, wie unerträglich heiß das ist. In Regionen am Persischen oder Arabischen Golf sowie dem Roten Meer werden solche Werte fast jedes Jahr an einigen Tagen erreicht. Mit jedem weiteren Temperaturanstieg wird die Zahl der Tage mit Lebensgefahr für Geschwächte und für Unbesonnene sich vervielfachen, denn mit einer mittleren Erwärmung sind unweigerlich neue Temperaturextreme verbunden.
Die Klimaforscher haben sich weder geirrt noch sind die Schutzmaßnahmen geringer als bisher, aber ein weiterer Anlass zu mehr Klimaschutz ist es allemal. Erneut gilt dabei: Die Wohlhabenden werden sich schützen können, die Armen weit weniger.
Seit 30 Jahren werden in der Klimapolitik immer wieder neue Hoffnungsträger präsentiert: CO2-Märkte, Klimakompensation, Netto-Null-Emissionen, naturbasierte Lösungen. Es geht dabei nur um Ablenkung von echtem Klimaschutz, meint der Landnutzungsexperte Chris Lang in einem Gastbeitrag. Das einzig Wirksame sei, die fossilen Brennstoffe im Boden zu lassen. Hat er recht?
Das Pariser Klimaabkommen hat als völkerrechtlich bindendes Abkommen zwei Säulen, nämlich eine maximale mittlere globale Erwärmung wesentlich unter zwei Grad und das Erreichen der Treibhausgasneutralität in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts. Beides kann die Völkergemeinschaft angesichts der Dominanz des Kohlendioxids in der Industriegesellschaft nur erreichen, wenn alle noch förderbaren fossilen Brennstoffe – nach einer kurzen Übergangsfrist mit rasch abnehmender Nutzung – in der Erdkruste bleiben.
Das heißt aber auch: Diese Bodenschätze sind bald nichts mehr wert, und eine völlig neue Energieversorgung ist aufzubauen. Wir müssen zurück in ein zweites solares Zeitalter, nachdem wir uns mit den fossilen Brennstoffen für wenige Jahrhunderte vom ersten solaren Zeitalter verabschiedet hatten. Insoweit hat der Gastautor recht. Jetzt zählt die Ausstattung der Länder mit den beiden wichtigsten erneuerbaren Energien, Sonne und Wind.
Was er aber über weitere Aspekte des von uns beeinflussten Kohlenstoffkreislaufes sagt, bedarf der Ergänzung. Das Paris-Abkommen fordert Treibhausgasneutralität, also müssen zum Beispiel Senken für Kohlenstoff – meist CO2 und Methan – so groß wie die Quellen sein. Wenn wir also weiterhin Fleisch- und Milchprodukte essen, müssen wir Senken schaffen.
Wir müssen auch die vielfältigen anderen Treibhausgasquellen abdichten oder kompensieren, über die kaum diskutiert wird. Zuerst sind da die CO2-Emissionen aus entwässerten Moorböden zu beenden, zurzeit in Deutschland 55 Millionen Tonnen pro Jahr – das sind etwa sieben Prozent aller Emissionen.
Aber auch die Methanemissionen aus den früheren Steinkohlebergwerken und aus alten Mülldeponien gehören dazu, genauso wie die Lachgasemissionen aus den überwiegend mit künstlichem Stickstoffdünger gedüngten Feldern.
90 Prozent aller Haushalte könnten Mitglied in Energiegemeinschaften sein und dann auch von günstigeren Strompreisen profitieren, zeigt eine Analyse für das Bündnis Bürgerenergie. Ob die Ampel-Koalition dafür die rechtlichen Voraussetzungen schafft, ist aber noch unklar. Halten Sie es für sinnvoll, bei der Bürgerenergie einen neuen Anlauf zu wagen?
Seit der Umbau der Energieversorgung zu einem System mit erneuerbaren Energien völkerrechtlich erzwungen wird, haben die früheren Hauptbremser – die Besitzer von Steinkohle-, Braunkohle- und Gaskraftwerken sowie der jahrzehntelang staatlich gestützten Kernkraftwerke in Deutschland – die Liebe zu erneuerbaren Energieträgern entdeckt. Sie wollen nun mit Wind- und Solarenergie dominant bleiben.
Dass es zu dem jetzt auch offiziell gewollten Umbau des Energieversorgungssystems gekommen ist, haben wir wesentlich den Bürgerenergiegenossenschaften zu verdanken.
Nach der Reaktorkatastrophe 2011 im japanischen Fukushima hat die ihre Macht geschwächt sehende Bundeskanzlerin Angela Merkel realisiert: Bei den damals schon 17 Prozent erneuerbarem Strom im Netz unterminiert der Ausstieg aus der Kernenergie nicht die Wirtschaftskraft. Die engagierten Bürgerenergiegenossenschaften zusammen mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz hatten die Basis für diese Entscheidung geschaffen.
Bei heute fast 50 Prozent aus erneuerbaren Quellen im Netz kommt es darauf an, dass die Bürger weiter wesentlich mitbestimmen. Ich wünsche mir, dass die Ampelkoalition die Beteiligung der Bürger und damit unsere Demokratie noch stärkt. Also sind die Bedingungen für Bürgerenergiegenossenschaften zu verbessern, und eine dieser Verbesserungen ist der Vorschlag des Bündnisses Bürgerenergie.
Die großen Konzerne haben schon bei der Offshore-Windenergie das Heft in der Hand. Sie sollen nicht auch noch bei Windenergie an Land die Hauptakteure werden – und schon gar nicht bei Photovoltaik und Solarthermie.
Und was war Ihre Überraschung der Woche?
Es freut mich, dass unsere Umweltministerin Steffi Lemke die als Klimaschutzmaßnahme verkaufte Beimischung der meist aus Mais und Raps gewonnenen Pflanzentreibstoffe zu etwa zehn Prozent beim Benzin und sieben Prozent beim Diesel jetzt beenden möchte.
Für diesen kleinen Zusatz zum Treibstoff für die Autos und Lastkraftwagen in Deutschland werden eine halbe Million Hektar in Deutschland und etwa eine Million Hektar im Ausland nicht für die Ernährung, sondern für die Treibstoffindustrie verwendet. Werden sie zur Ernährung genutzt, können diese Flächen die sich durch den Krieg in der Ukraine verschärfende Welternährungskrise abmildern.
Mehrere schon länger bekannte Tatsachen verhindern, dass diese Beimischung eine Klimaschutzmaßnahme ist. Erstens wird bei der Herstellung von Kunstdünger und Pestiziden sehr viel Energie – bisher aus fossilen Brennstoffen – eingesetzt.
Zweitens entweicht von den stark gedüngten Äckern so viel von dem sehr langlebigen Treibhausgas Lachgas, dass dadurch die vermeintliche CO2-Freiheit im Vergleich zum Standardkraftstoff verloren geht, wie der Nobelpreisträger Paul Crutzen mit Kollegen schon 2008 gezeigt hat.
Jetzt müssen noch die mitbetroffenen Ministerien zustimmen, wobei ich nur vom Verkehrsministerium wesentliche Bremsversuche erwarte.
Fragen: Jörg Staude
Anmerkung am 13. Mai: Landnutzungsexperte Chris Lang hat hier geantwortet: Offsetting is not an option if we are serious about addressing the climate crisis