Warum ist Wildnis in Deutschland wichtig? In solchen Zonen kann sich die Natur praktisch unbeeinflusst vom Menschen nach ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten entwickeln – ein wichtiger Beitrag etwa zur Erhaltung der biologischen Vielfalt, zur CO2-Speicherung und zum Hochwasserschutz.

Eigentlich müsste der Flächenanteil der Wildnisgebiete hierzulande bereits zwei Prozent betragen, erreicht ist davon aber noch nicht einmal ein Drittel, wie eine aktuelle Bilanz zeigt. Doch klar wird darin auch: Das Ziel ist durchaus erreichbar.

 

Die "Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt" ist von der Bundesregierung 2007 beschlossen worden. Neben dem Zwei-Prozent-Ziel, das durch großflächige Wildnisgebiete realisiert werden soll, gibt es darin weitere Anforderungen. So ist ein länderübergreifender Biotopverbund geplant, um die Flächen zu vernetzen. Außerdem wurde vorgegeben, dass sich auf fünf Prozent der Waldfläche Wälder natürlich entwickeln.

Mit der Naturstrategie versuchte die damalige Merkel-Regierung, sich auf dem UN‑Naturschutzgipfel, der ein Jahr später in Bonn stattfand, ein gutes Image zu geben. Doch mit der Umsetzung haperte es danach. Die zwei Prozent Wildnis hätten bereits 2020 erreicht sein sollen. Auch heute, vier Jahre danach, ist das bei Weitem nicht geschafft, wie die neuen Zahlen belegen.

Schlusslicht Baden-Württemberg

Die jetzt von Naturschutzorganisationen vorgelegte detaillierte Bilanz zeigt: Der Flächenanteil beträgt bundesweit im Schnitt rund 0,6 Prozent, und mit den in den nächsten Jahren konkret geplanten Gebieten werden es 0,7 Prozent sein.

Dabei ist die Situation in den Bundesländern sehr unterschiedlich. Mecklenburg-Vorpommern zum Beispiel steht mit gut 1,6 Prozent und fest geplanten 0,4 Prozentpunkten kurz davor, das Zwei-Prozent-Ziel zu erreichen, Baden-Württemberg hingegen ist Schlusslicht mit nur 0,2 Prozent und keinen zusätzlichen Flächen.

Wasser steht auf einer Wiesenlandschaft im Nationalpark Unteres Odertal.
Flussaue im Nationalpark Unteres Odertal. (Bild: Frank Baldus/​Wikimedia Commons)

Die waldreichen Länder Bayern, Hessen, Thüringen und Rheinland-Pfalz liegen alle bei etwas über 0,5 Prozent. Die Untersuchung weist aber auch nach, dass es genügend Potenziale gibt, um das Zwei-Prozent-Wildnisziel in den nächsten Jahren zu erreichen.

Heiko Schumacher von der Heinz-Sielmann-Stiftung, die an dem Projekt beteiligt war, sagte bei der Präsentation der Ergebnisse am Montag in Berlin: "Trotz der Bemühungen von Bund und Ländern sowie der Beiträge von Naturschutzorganisationen sind wir von der Umsetzung des Zwei-Prozent-Ziels noch weit entfernt."

Die Analyse zeige aber auch, dass sich weitere 1,7 Prozent der deutschen Landesfläche für großflächige Wildnisgebiete eignen. "Damit könnte das Zwei-Prozent-Ziel sogar übertroffen werden", meinte Schumacher. Er sei optimistisch, dass die Bundesrepublik der Vorgabe in den nächsten Jahren immer näherkommen werde.

Weitere Partner bei der Erstellung der Studie waren die Naturstiftung David und die Zoologische Gesellschaft Frankfurt. Gefördert wurde das Projekt von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU).

Wildnis kann auch auf vernutzten Flächen entstehen

Bisher wurden großflächige Wildnisgebiete praktisch nur auf Flächen der öffentlichen Hand – Bund, Länder, Kommunen – eingerichtet. Das dürfte auch bei der Ausweitung schwerpunktmäßig so sein. Allerdings könne es künftig auch für andere, ob Privatperson, Umweltgruppe oder Kirchenverwaltung, lukrativ sein, Wildnis zu schaffen, sagte der Geschäftsführer der Naturstiftung David, Adrian Johst.

Die Bundesregierung hat 2019 ein Förderprogramm "Wildnisfonds" von 20 Millionen Euro jährlich aufgelegt, das auf größere Gebiete zielt, während ihr "Aktionsprogramm Natürlicher Klimaschutz" eine Finanzierung auch für kleinere Areale vorsieht.

Das Aktionsprogramm wurde 2023 von der Ampel beschlossen, um durch Renaturierung geschädigter Naturflächen, etwa trockengelegter Moore, deren CO2-Speicherfähigkeit wieder zu erhöhen und so die Atmosphäre zu entlasten.

Auch der ehemalige Braunkohletagebau Grünhaus in der Niederlausitz ist auf dem Weg zur Wildnis. (Bild: Bodo Witzke/​Wikimedia Commons)

Wildnisgebiete gibt es heute heutzutage hauptsächlich in den Kernzonen der 16 deutschen Nationalparks, vom Wattenmeer bis zum Bayerischen Wald, von der Eifel bis in die Sächsische Schweiz, außerdem in einigen Biosphärenreservaten sowie auf Flächen des "Nationalen Naturerbes".

Das sind ehemals militärisch genutzte Gebiete, Flächen entlang der innerdeutschen Grenze –das "Grüne Band" –, Treuhandflächen aus dem DDR-Volksvermögen und stillgelegte DDR-Braunkohletagebaue.

Die neue Untersuchung zeigt in einer interaktiven Karte, wo aktuell neue Wildnisgebiete geplant sind. Ein "Urwald von morgen" soll zum Beispiel auf dem ehemaligen Truppenübungslatz Tangersdorf bei Lychen in Brandenburg entstehen, eine "neue Moorwildnis" im Aschhorner Moor in Niedersachsen und ein "Laubwald-Urwald von morgen" im Wispertaunus in Hessen.

Die Karte zeigt, dass Wildnis nicht nur in bisher schon naturnahen Gebieten entstehen kann, sondern auch auf stark vom Menschen geprägten Flächen – etwa ehemaligen Bergbau- und Militärflächen. Allerdings braucht es nach Ansicht der Fachleute möglichst große und zusammenhängende Gebiete, damit die Rückkehr zur Wildnis in ihren vielfältigen Ausprägungen auch gut funktioniert und Konflikte mit der umliegenden Kulturlandschaft minimiert werden.

Als Untergrenze gelten generell 1.000 Hektar, bei Auen, Mooren, Küsten und Seen sind es 500 Hektar. Aber auch kleinere Wildnisflächen zwischen den großen Arealen sind durchaus wichtig, denn erst sie bieten die Möglichkeiten der Vernetzung zwischen den sich etablierenden Hotspots der Biodiversität.

Bürgerinitiativen fordern Naturmanagement

Obwohl viele Menschen dem Wildnis-Ansatz positiv gegenüberstehen, geht es vor Ort nicht immer konfliktfrei zu. Immer wieder kommt es vor, dass bisherige Nutzer der künftigen Nur-Natur-Flächen oder angrenzender Zonen Widerspruch einlegen.

Ein aktueller Fall ist der Streit um Wildnisflächen im Unterspreewald südöstlich von Berlin, wo eine Initiative mit dem Namen "Spreewald statt Wildnis" Front dagegen macht. Es geht um 233 Hektar Waldfläche, die seit März 2024 aus der Bewirtschaftung genommen sind.

Ursprünglich sollten es 1.000 Hektar sein, doch nach Protesten dagegen reduzierte das Land Brandenburg die Fläche um rund 75 Prozent. Die Bürgerinitiative hält das nicht für ausreichend, sie fordert eine Rücknahme auch für die 233 Hektar.

BI-Sprecher Yves Schwarz sagte dazu jüngst gegenüber der Lausitzer Rundschau, Ziel müsse eine kontrollierte Wildnis sein, die sich durch gezielte Bewirtschaftung entfalten könne. "Keine, die sich selbst überlassen ist."

 

Naturschutz-Fachleute halten solche Konflikte grundsätzlich für lösbar. Sielmann-Experte Schumacher sagte gegenüber Klimareporter° dazu: "Insgesamt zeigen viele Beispiele wie die Nationalparke, dass Wildnisgebiete gut mit ihrer jeweiligen Region harmonieren und im Regelfall sogar Vorteile für ihre Region schaffen."

Diese profitiere zum Beispiel von den mit Wildnisprojekten verbundenen neuen Finanzmitteln und von Angeboten für Naturerleben, Umweltbildung, Forschung und Gesundheitsschutz. Schumacher rät allerdings, mögliche Konfliktlinien schon im Vorfeld einer Gebietsentwicklung ausfindig zu machen und durch gute Information und breite Öffentlichkeitsbeteiligung einer Eskalation vorzubeugen.