Hartmut Graßl. (Foto: MPI-M)

Immer wieder sonntags: Unsere Herausgeber erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Professor Hartmut Graßl, Physiker und Meteorologe.

Klimareporter°: Herr Professor Graßl, der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung für Globale Umweltveränderungen (WBGU) fordert einen Klimapass für Menschen, die ihre Heimat wegen des Klimawandels verlieren. Ist es realistisch, dass dieser Forderung Gehör geschenkt wird?

Hartmut Graßl: Als früheres Mitglied und Vorsitzender des WBGU freut es mich, dass mit dem neuen Politikpapier mehrere für die Regierungen heiße Eisen angepackt worden sind. Die Frage geht nur auf eines ein, nämlich die Einführung eines Passes für Menschen, die wegen der raschen anthropogenen Klimaänderungen ihre Heimat verlassen müssen, in Anlehnung an den Nansen-Pass für Staatenlose nach dem Ersten Weltkrieg. Dieser individuelle Ansatz soll den einzelnen Menschen in die Lage versetzen, frei über seine Fortwanderung zu entscheiden. Er gäbe dem Individuum Würde durch Mobilitätsrecht, so die Empfehlung des WBGU zur Bewältigung der einsetzenden Klimamigrations-Krise.

Wie üblich bei wesentlichen Neuerungen wird es sehr viele Bedenkenträger geben. In der Klimapolitik ist jedoch mit den jährlich stattfindenden Vertragsstaatenkonferenzen – in diesem Jahr in Katowice in Polen – die geeignete Arena für die Debatte vor der sicherlich unvermeidbaren endgültigen Annahme vorhanden. Der Vorschlag sollte dort nicht nur von Umweltverbänden gefordert, sondern auch von der deutschen Bundesregierung und von anderen Ländern eingebracht werden.

Eine Studie kam zu dem Ergebnis, dass bei steigenden CO2-Konzentrationen in der Luft der Nährwert von Nahrungspflanzen sinkt. Eine andere, dass durch den Klimawandel Insektenpopulationen in vielen Regionen der Welt hungriger werden und für Ernteausfälle sorgen. Wie stark ist unsere Versorgung mit gesunden Lebensmitteln durch den Klimawandel gefährdet?

Der Befund, dass sich bei erhöhtem Kohlendioxidgehalt der Luft die Nährstoffzusammensetzung der Pflanzen ändert, und zwar meist in Richtung geringerer Nährwerte pro gebildeter Biomasseeinheit, ist seit einigen Jahren bekannt. Gleichzeitig steigt aber bei ausreichend Düngung und Wasser die Menge. Die CO2-Studie hat diese Befunde gesammelt und Neues hinzugefügt. Dramatik sehe ich darin nicht, weil auch Sortenwahl und Züchtung gegen Nährwertverlust angehen können.

Für bedeutender halte ich den erhöhten Pestizideinsatz wegen der steigenden Gefährdung durch Schadinsekten – denn das wird wie üblich die Reaktion der industrialisierten Landwirtschaft sein.

Beide Fragen zeigen, wie wichtig Klimaschutz – auch ohne Wetterextreme als Ausdruck des geänderten Klimas – für unsere Ernährung ist. Ich wiederhole hier zum x-ten Male: Das Ziel einer nachhaltigen Entwicklung ist nur bei konsequentem Klimaschutz zu erreichen!

Der BUND und die anderen Umweltverbände in der Kohlekommission fordern ein Moratorium für die Rodung im Hambacher Forst. Auch Umweltministerin Schulze und die Gewerkschaft Verdi in NRW haben sich dem angeschlossen. Ist die Forderung gerechtfertigt?

Ein Rechtsstaat muss verbindliches Völkerrecht wie das Paris-Abkommen zum Klimaschutz, das seit dem 4. November 2016 gilt, ernst nehmen. Also muss die Bundesrepublik Deutschland aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe möglichst rasch aussteigen. Dies gilt zuallererst für die Braunkohleverstromung, die ja für eine Kilowattstunde Energie etwa dreimal so viel Kohlendioxid in die "Müllhalde" Atmosphäre entlässt wie ein modernes Gaskraftwerk.

In dieser Situation ist es überhaupt nicht zu verstehen, wenn für diese Extremverschmutzung der Atmosphäre noch obendrein Wald vorzeitig abgeholzt wird, ohne die Empfehlung der sogenannten Kohlekommission Ende des Jahres abzuwarten. Weil die Zeichen der Zeit in der Politik wenigstens teilweise verstanden werden, gibt es jetzt die in der Frage genannte neue Koalition zum Schutz eines Forstes.

Sollte wirklich schon jetzt gerodet werden, obwohl man bei ungebremster Förderung der Braunkohle frühestens in etwa drei Jahren in die Nähe des Forstes kommen würde, halte ich das für ein weiteres Zeichen nahezu fehlender Klimapolitik.

Und was war Ihre Überraschung der Woche?

Ein eben in der Zeitschrift Science erschienene Klimamodellstudie von Yan Li und anderen zeigt, dass bei großskaligem Einsatz von Windenergiefarmen und Solarenergie in der Sahara in der Region und der näheren Umgebung mehr Regen fällt und die Vegetation zunimmt. In anderen Worten: Auch die massive Nutzung erneuerbarer Energien führt zu Klimaänderungen, allerdings regional begrenzt und – was die Sahara betrifft – eher erwünscht.

Wie schon vor einigen Jahren Forscher von Max-Planck-Instituten gezeigt haben, ist vor allem die großskalige Nutzung der Windenergie klimaändernd. Der in kinetische Energie überführte Teil der Sonnenenergie macht ja nur etwa ein Prozent der von der Erde insgesamt absorbierten Sonnenenergie aus, und bei starker Nutzung dieser kinetischen Energie kann der Mensch viel rascher Störenfried sein.

Als Wissenschaftler bin ich gespannt, wie schnell Nachfolgestudien den beschriebenen Effekt relativieren oder bestätigen.

Fragen: Friederike Meier

Anzeige