Der Nördliche Schneeferner auf der Zugspitze, der Höllentalferner im Wettersteingebirge, der Watzmanngletscher und der Blaueisgletscher in den Berchtesgadener Alpen – das sind die letzten vier Gletscher in den deutschen Alpen.

Vor Kurzem gab es mit dem Südlichen Schneeferner noch einen fünften Gletscher, der aber den Sommer 2022 nicht überstanden hat. Auch bei den verbleibenden vier ließe sich wissenschaftlich darüber streiten, ob sie wirklich noch als Gletscher gelten dürfen, sagt Gletscherexperte Wilfried Hagg von der Hochschule München.

 

"Seriöse Wissenschaftler haben in der Regel aber Besseres zu tun, als sich über Wortklaubereien zu kümmern", meint Hagg. In der Tat haben Gletscherexpert:innen derzeit viel zu tun, schließlich schmilzt ihnen ihr Forschungsgegenstand im wahrsten Sinne des Wortes unter den Händen dahin.

Mehr als zehn Jahre geben Wissenschaftler:innen den letzten vier Eisriesen, oder nun vielmehr Eiszwergen, nicht. Bis 2035 wird Deutschland, so die Prognose, gletscherfrei sein – das erste Mal seit wohl mindestens 6.000 Jahren. Die Alpen waren vermutlich bis zu fünf Millionen Jahre durchgehend vergletschert.

Weltweit haben Gletscher zwischen 2000 und 2023 über 6.500 Milliarden Tonnen Eis verloren, fünf Prozent ihrer Gesamtmasse. Das zeigt eine neue wissenschaftliche Studie in dem Fachmagazin Nature.

Es ist die bisher umfangreichste ihrer Art. Die Autor:innen verglichen und homogenisierten die Datensätze von 35 unterschiedlichen Forschungsgruppen. Die verschiedenen methodischen Ansätze der Gletscherforschung ergänzen sich dabei in vielerlei Hinsicht.

Glaziologische Messungen vor Ort sind sehr exakt, aber nur für wenige Gletscher verfügbar. Daraus abgeleitete und mit Satellitendaten ergänzte digitale Höhenmodelle ermöglichen eine globale Gletscherbeobachtung, können jedoch nur mehrjährige Trends abbilden.

Die auf Radardaten basierende Höhenmessung wiederum liefert monatliche Werte, allerdings im Vergleich zu den Höhenmodellen nur für große Gebiete. Auch Gravitationsmessungen zur Bestimmung der Massenänderung eines Gletschers haben ihre Vor- und Nachteile.

Gletscher verlieren 30-mal so viel Wasser, wie alle Menschen trinken

Die vielfältigen und uneinheitlichen methodischen Ansätze hätten in der Vergangenheit große Herausforderungen dargestellt, betonen die Autor:innen. Indem nun die regional und methodisch vielfältigen Datensätze zusammengeführt wurden, ließen sich der weltweite Gletscherzustand und die regionalen Unterschiede verlässlicher beschreiben als jemals zuvor.

Jedes Jahr verlieren die Gletscher der Welt durchschnittlich 273 Milliarden Tonnen Eis. Das ist fünfmal der Bodensee oder, wie Michael Zemp, Direktor des World Glacier Monitoring Service und Hauptautor der Studie, dem Sender BBC sagte: so viel, wie die Weltbevölkerung in 30 Jahren trinkt.

Wenn der Schnee geschmolzen ist und kein Regen fällt, sind die weltweiten Flüsse vom Gletscherwasser abhängig. (Bild: Melanie 1670/​Pixabay)

Die Schmelzgeschwindigkeit hat sich dabei in den letzten Jahren immer weiter erhöht. Über das vergangene Jahrzehnt ist die globale Gletschermasse um ein Drittel schneller geschrumpft als noch von 2000 bis 2011.

Der Zustand der Gletscher ist damit ein sehr guter Indikator für die Erderwärmung. Auch diese hat in den vergangenen Jahrzehnten einen ordentlichen Zahn zugelegt. Zwischen 1970 und 2010 hat sich die Atmosphäre um 0,18 Grad pro Dekade erwärmt. Von 2014 bis heute waren es 0,26 Grad.

Die Arbeit der Forschungsgruppe um Zemp zeigt außerdem, wie groß die regionalen Unterschiede sind. In der Polarregion haben die Gletscher seit Beginn des Jahrtausends nur zwei Prozent ihrer Masse verloren.

Mitteleuropa und damit die Alpen haben im gleichen Zeitraum fast 40 Prozent ihrer Eismassen verloren. Auch die Gletscher im Kaukasus und in Neuseeland mussten mit 35 beziehungsweise 29 Prozent einen starken Masseverlust verkraften.

In den südlichen Anden und in Alaska war der Schwund mit 13 und neun Prozent deutlich geringer. Je kleiner die Gletscher sind, erläutert der nicht an der Studie beteiligte Glaziologe Wilfried Hagg, desto stärker wirke sich der Klimawandel aus.

"Die Klimaerwärmung bewirkt auf den Gletschern einen Anstieg der Schneegrenze und damit eine Verkleinerung der sogenannten Nährgebiete, in denen aus dem überschüssigen Schnee neues Gletschereis entsteht", so Hagg. Bei kleinen Gletschern betrifft dieser Anstieg der Schneegrenze eine im Vergleich zur Gesamtgröße viel größere Fläche.

Zwei Milliarden Menschen leben vom Gletscherwasser

Wenn auch unterschiedlich stark, einen Eisverlust muss jede Weltregion beklagen. Die Massenbilanz eines Gletschers müsse man sich wie ein Bankkonto vorstellen, erläuterte Zemp der Süddeutschen Zeitung.

"Die Einnahmen sind der Schnee im Winter, der den Gletscher wieder aufbaut. Die Ausgaben sind die Gletscherschmelze im Sommer." Aktuell befänden sich die Gletscher in einer schweren Finanzkrise.

Bis zu einem Fünftel der Gletscher sind laut dem Forscher nicht mehr zu retten. Sie wären auch dann verloren, wenn die Menschheit ab heute keine Treibhausgase mehr ausstoßen würde.

Das hat weitreichende Folgen. Das Schmelzwasser, das über die weltweiten Flusssysteme im Ozean landet, lässt den Meeresspiegel ansteigen. Seit dem Jahr 2000 gehen knapp zwei Zentimeter des Anstiegs auf die Kappe des Gletscherwassers.

Noch stärker tragen dazu die schmelzenden Eisschilde Grönlands und der Antarktis bei. Diese wurden in der aktuellen Studie allerdings ausgeklammert.

 

Vor allem ist durch das große Schmelzen aber die Süßwasserversorgung vielerorts bedroht. Zwei Milliarden Menschen sind in den warmen und trockenen Monaten auf das Schmelzwasser angewiesen.

Aufgrund der hohen Niederschlagsmengen seien die Folgen in Europa zwar vergleichsweise gering, sagt Hagg. In sommerlichen Trockenphasen würden aber auch hier Niedrigwassersituationen wahrscheinlicher werden.

Vergangene Untersuchungen haben gezeigt, dass der Rhein-Durchfluss im August bis Ende des Jahrhunderts um bis zur Hälfte abnehmen könnte. Das hätte weitreichende Auswirkungen auf die Schifffahrt, die Landwirtschaft, die Energieversorgung und natürlich die Gewässerökologie. Geringere Wassermengen bedeuten höhere Wassertemperaturen, niedrigere Sauerstoffwerte und eine höhere Konzentration von Schadstoffen.

Anzeige