Dampfendes Braunkohlekraftwerk im Sonnenschein.
Gift fürs Klimaziel: Deutsche Kohlekraftwerke. (Foto: Catazul/​Pixabay)

Wenigstens die Energiewirtschaft kann aufatmen. Ihr hatte der Branchenverband BDEW kürzlich bescheinigt, ihre Klimavorgabe für 2022 gerissen zu haben – mit 260 statt der gesetzlich erlaubten 257 Millionen Tonnen CO2-Emissionen.

In seiner heute veröffentlichten Jahresbilanz kommt der Thinktank Agora Energiewende aber zum Ergebnis, die Emissionen der Energiewirtschaft seien nur um acht Millionen auf 255 Millionen Tonnen CO2 angestiegen, das Reduktionsziel also knapp eingehalten worden.

Den Unterschied von fünf Millionen Tonnen zur BDEW-Prognose erklärte der Thinktank auf Nachfrage vor allem damit, dass der BDEW auch den Eigenverbrauch der Pumpspeicherwerke eingerechnet habe.

Zudem weisen die Agora-Experten gegenüber Klimareporter° darauf hin, dass die Emissionsermittlung in Energiewirtschaft und Industrie derzeit mit hohen Unsicherheiten behaftet ist. Noch fehlten verlässliche Daten zum Wechsel von Erdgas zu Kohle und Öl in den beiden Sektoren. Je nach Methodik komme man zu einer anderen Aufteilung der Emissionen auf Energiewirtschaft und Industrie.

Der energiewirtschaftliche Hauptgrund für die steigenden CO2-Emissionen ist bei beiden Prognosen aber derselbe: die höhere Verstromung von Kohle aufgrund stark gestiegener Erdgaspreise.

Wie der Thinktank hervorhebt, hat auch der verstärkte Einsatz von Öl, vor allem zum Heizen, die CO2-Einsparungen durch den sinkenden Energieverbrauch 2022 zunichtegemacht. Dieser nahm laut den Angaben gegenüber dem Vorjahr um 4,7 Prozent oder 162 Milliarden Kilowattstunden ab. Das lag unter anderem an den massiven Preissteigerungen bei Erdgas und Strom und an der milden Witterung.

Wie schon der BDEW stellte auch Agora Energiewende für 2022 einen neuen Höchstwert für Strom aus erneuerbaren Quellen fest. Der Thinktank gibt hier einen Anteil von 46 Prozent am Bruttostromverbrauch an, der BDEW kommt auf 47 Prozent.

Bruno Burger vom Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme in Freiburg hat jetzt ausgerechnet, dass erneuerbarer Strom 2022 sogar einen Anteil von 49,6 Prozent an der öffentlichen Nettostromerzeugung hatte und von 50,3 Prozent an der sogenannten "Last". Diese beinhaltet Burger zufolge den Stromverbrauch und die Netzverluste, aber nicht den Verbrauch der Pumpspeicherkraftwerke oder den Eigenverbrauch der konventionellen Kraftwerke.

Ökostrom-Lücke absehbar

All das – weniger Verbrauch und höherer Erneuerbaren-Anteil – konnte laut der Agora-Bilanz aber nicht verhindern, dass Deutschland 2022 rund 761 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent emittierte und damit sein CO2-Budget von 756 Millionen Tonnen um fünf Millionen Tonnen überzog.

Dass die Emissionen trotz eines deutlich niedrigeren Energieverbrauchs auf hohem Niveau stagnieren, stellt für Agora-Direktor Simon Müller ein "Alarmsignal" dar. "2023 muss die Regierung die Trendwende schaffen: raus aus den fossilen Energien und konsequent rein in die Erneuerbaren", betonte Müller. Das helfe dem Klima, senke die Preise und mache unabhängig von fossilen Energieimporten.

Insbesondere Gebäude und Verkehr blieben im vergangenen Jahr laut Agora Energiewende weiter hinter den Klimavorgaben zurück. Der Verkehr überzog sein Budget um elf Millionen Tonnen, der Gebäudebereich um fünf Millionen Tonnen.

Agora-Chef Müller warnte auch davor, das Plus bei den Erneuerbaren überzubewerten: Das Rekordjahr sei wetterbedingt und kein struktureller Beitrag zum Klimaschutz. Deutschland steuere vielmehr auf eine massive Lücke beim Erneuerbaren-Ausbau zu, vor allem dauere die Ausbaukrise bei der Windenergie an. Hier seien 2022 nur rund 2.000 Megawatt hinzugekommen.

Für Kai Niebert, Chef des Dachverbandes Deutscher Naturschutzring (DNR), wird 2023 der Lackmustest, ob die Ampel-Koalition ihr Fortschrittsversprechen noch einhalten kann. "Wir brauchen jetzt Sofortprogramme nicht nur für die ewigen Klimaverlierer Verkehr und Gebäude, sondern auch für den Energiesektor", forderte Niebert.

Nötig sei eine substanzielle Kurskorrektur, so der Verbandschef. "Die Hemmnisse beim Ausbau der erneuerbaren Energien müssen konsequent abgebaut, der LNG-Hype auf das notwendige Minimum reduziert und die Verstromung von Kohle wieder runtergefahren werden."

Neue Gasheizungen torpedieren das CO2-Ziel

Besondere Sorgen bereiten Agora Energiewende einige sich abzeichnende Trends, die auch künftig das Erreichen der Klimaziele gefährden.

In der Jahresbilanz wird gewarnt: Ohne einen Ausbau der Erneuerbaren, der die Lücke schließt, wird die höhere Stromnachfrage durch mehr Elektrifizierung in Verkehr, Wärme und Industrie bei gleichzeitigem Wegfall der nuklearen Stromerzeugung zu einem vermehrten Einsatz fossiler Kraftwerke führen.

Da der Erdgaspreis jetzt nur langsam sinken werde, sei ein vermehrter Einsatz von Kohle wahrscheinlich – mit entsprechend höheren CO2-Emissionen im Stromsektor.

Auch im Gebäudebereich bleibe der Absatzmarkt für Wärmeerzeuger weiter hinter der klimapolitisch notwendigen Dynamik zurück, konstatiert der Thinktank in der Bilanz. So waren unter den rund 920.000 neuen Heizanlagen, die 2021 verkauft wurden, noch rund 700.000 Öl- und Gaskessel. Aber auch 2022 seien schätzungsweise noch über 600.000 Gas- und 50.000 Ölkessel abgesetzt worden.

Gaskessel nehmen laut Agora-Bilanz mit über 60 Prozent der für Gebäude verkauften Wärmeerzeuger noch immer den größten Posten ein – und der Absatz von Ölkesseln hat im letzten Jahr sogar leicht zugenommen. Bei einer üblichen Lebensdauer von 20 bis 30 Jahren wären viele dieser Kessel also auch 2045 noch in Betrieb – dann will und muss Deutschland aber klimaneutral sein.

Der Beitrag wurde um 16 Uhr ergänzt (Agora-Hinweis zur Emissionsermittlung).

Lesen Sie dazu unseren Kommentar:

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