Hier ist Michael Müller zu sehen, SPD-Vordenker und Mitglied des Kuratoriums von Klimareporter.
Michael Müller. (Foto: Martin Sieber)

Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Kuratoriums erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Michael Müller, als SPD-​Politiker bis 2009 Parlamentarischer Staatssekretär im Umweltministerium, heute Bundesvorsitzender der Naturfreunde Deutschlands.

Klimareporter°: Herr Müller, vor einem Jahr hat Greta Thunberg in Stockholm mit ihrem Schulstreik für das Klima angefangen und mit "Fridays for Future" eine riesige Bewegung inspiriert. Was hat die Bewegung in Ihren Augen erreicht?

Michael Müller: Mich bewegt das sehr, denn es ist jetzt 30 Jahre her, da hat die damalige Enquete-Kommission des Bundestages "Schutz der Erdatmosphäre" nicht nur den Klimawandel detailliert beschrieben und die heraufziehenden Gefahren aufgezeigt, sondern in ihrem Abschlussbericht auch sehr umfangreiche und konkrete Reduktionsszenarien vorgelegt – orientiert an einer Erwärmungsobergrenze von 1,5 Grad Celsius.

Danach sollten die Treibhausgasemissionen bis 2005 um ein Drittel gesenkt werden, in den darauffolgenden 15 Jahren wieder um ein Drittel. Berechnet war das für die alte Bundesrepublik, denn für die DDR war die Datenlage noch unzureichend.

In der Folge wären die Treibhausgase in Deutschland heute um rund zwei Drittel niedriger, denn das Einsparpotenzial lag in den neuen Bundesländern noch deutlich höher. Deutschland hätte auch international ein gutes Beispiel für die ökologische Modernisierung geliefert.

Das alles wurde 1990 einstimmig vom Bundestag beschlossen. Das Bundeskabinett fasste kurze Zeit später einen Beschluss zur Emissionsreduktion um mindestens 25 Prozent in den alten Bundesländern. Das war damals eine international stark beachtete Pionierleistung.

Aber der Widerspruch zwischen Wissen und Handeln wurde immer größer, die Schere zwischen dem Beschluss und der Wirklichkeit ging weit auseinander. Ich sehe in erster Linie drei Gründe dafür.

Erstens hat die deutsche Einheit die Prioritäten verschoben, weil es den zentralen Fehler gab, den Aufbau Ost nicht mit dem Umbau West zu verbinden. Man hatte ja in der Systemauseinandersetzung "gewonnen", wieso sollte das kapitalistische Wachstumsmodell geändert werden?

Zweitens formierte sich in den 1990er Jahren die Lobby der fossilen Welt gegen den Klimaschutz. Und drittens hätte die Bundespolitik angeblich kein Geld für die "teure" Klimapolitik. Deutschland geriet damals in die Rolle des "Kranken Mannes in Europa" und fiel in die alte Politik zurück.

Heute löst Fridays for Future bei den Politikern, die bisher wenig für den Klimaschutz getan haben, einen beinahe tagtäglichen Überbietungswettbewerb aus. Sie tun so, als ob alles neu sei, und behaupten, sie müssten erst ein Konzept entwickeln.

Das ist Selbstbetrug, deshalb bin ich trotz des neuen Hypes skeptisch. Auch wegen vieler interpretierbarer Aussagen: Was wird unter "Klimaneutralität" verstanden? Was unter technischen Lösungen? Warum geschieht so wenig seit dem Pariser Klimavertrag, wann wird bei den Reduktionsplänen der Staaten nachgelegt? Denn die bisher vorgelegten Selbstverpflichtungen reichen ja bei Weitem nicht aus.

Insofern: Es ist gut, dass der Klimaschutz ins Zentrum rückt, aber ich bleibe vorsichtig, denn es kann auch wieder zu einem "Kleinarbeiten" des Themas und zu Scheinlösungen kommen.

Der CO2-Preis ist wieder in aller Munde. Zahlreiche Thinktanks und Umweltverbände haben sich für ein Steuermodell ausgesprochen. Wie sehen Sie das?

Es macht mich skeptisch, wenn zum Beispiel Christoph Schmidt vom Sachverständigenrat, den sogenannten Wirtschaftsweisen, eine CO2-Steuer empfiehlt, aber gleichzeitig den Mindestlohn ablehnt. Die Grundlage einer erfolgreichen Transformation muss eine soziale und ökologische Gestaltung sein.

Die Umweltverbände fordern einen Einstieg in die Bepreisung, aber sie betonen, dass es beim Klimaschutz um einen umfangreichen Maßnahmenkatalog gehen muss. Eine CO2-Steuer allein führt – soll sie wirklich das Klima schützen – schnell zu einer starken Verteuerung. Die Folge ist entweder eine soziale Spaltung, sodass die Behauptung der sozialen Gerechtigkeit nicht eingelöst werden kann, oder der Prozess geht so langsam, dass das Ziel nicht schnell genug erreicht wird.

Richtig ist: Die Beseitigung der Externalisierung ist prinzipiell notwendig. Die sozialen und ökologischen Folgen wirtschaftlicher Prozesse dürfen nicht länger in erster Linie auf sozial schwächere Schichten, die Natur und künftige Generationen abgewälzt werden.

Das ist auch die Position der Umweltverbände, die deshalb einen Schwerpunkt auf Infrastruktur und Investitionsprogramme legen. Auch ein erweitertes Ordnungsrecht muss eine Rolle spielen. Auf jeden Fall ist ein Bewirtschaftungskonzept für die endlichen Güter und überlasteten Öko-Systeme notwendig.

Nicht zuletzt weise ich darauf hin, dass in der EU vor allem Frankreich die CO2-Steuer fordert – im Interesse seiner angeblich CO2-neutralen Atomenergie. Auch Vertreter der "Klimaneutralität", die auf zweifelhafte technische Lösungen setzen, unterstützen die CO2-Steuer.

Weil die erwähnte Enquete-Kommission damals sehr viel stärker die Effizienzpotenziale fördern wollte, hatte sie sich für eine Energiesteuer ausgesprochen, bei der ein Viertel bis ein Drittel des Aufkommens zur Förderung von Einspartechnologien eingesetzt werden sollte. Leider ist es auch dazu nicht gekommen.

Wie wichtig ist die Preispolitik insgesamt für den Klimaschutz?

Sie ist eine notwendige, aber längst keine hinreichende Maßnahme.

Die Bundesregierung will den Solidaritätszuschlag weitgehend abschaffen. Und das, beklagt unser Redakteur Jörg Staude in einem Kommentar, obwohl jetzt schon wieder argumentiert wird, dass für Strukturwandel und Klimaschutz zu wenig Geld in den öffentlichen Kassen ist. Hätte der Soli bleiben sollen?

Tatsächlich werden sich in der nächsten Zeit die ökonomischen Bedingungen wahrscheinlich grundlegend ändern. Wir rutschen in eine neue Rezession und es stellt sich wieder die Frage, ob es in dieser zugespitzten Phase zu einem Öko-Deal kommt oder ob versucht wird, mit der alten Wachstumspolitik noch einmal "Zeit zu kaufen", was natürlich kein Problem löst.

Ich plädiere erstens für eine gerechtere Besteuerung, zweitens für eine große Zukunftsanleihe und drittens für einen weiter differenzierten Mehrwertsteuersatz, der effiziente Produkte billiger macht, ineffiziente dagegen verteuert.

Und was war Ihre Überraschung der Woche?

Das hämisch-unanständige Verhalten gegenüber Greta Thunberg und ihrer Atlantiküberquerung. Natürlich kann man derartige symbolische Aktionen und ihre Vermarktung kritisieren. Aber das Segelschiff wäre auch ohne sie nach New York gefahren.

Wenn jetzt selbstgerechte Kritiker auftreten, die selber in den letzten 30 Jahren nichts für den Umwelt- und Klimaschutz zustande gebracht haben, ist das weder fair noch berechtigt.

Fragen: Susanne Schwarz

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