Dass wir eines Tages vor allem die Demokratie schützen müssten, hatten nicht viele auf dem Radar. Unser Fokus lag doch darauf, fossile Energien hinter uns zu lassen, Treibhausgasemissionen zu senken und mit erneuerbaren Energien zukunftstaugliche Wirtschaft, Arbeitsplätze und fairen Handel zu schaffen. Das alles hätte zwar viel schneller gehen müssen, der Widerstand war stark, aber die Richtung war richtig.
Es kam jedoch ganz anders. Der Umgangston wurde rau, die Parteienlandschaft verschob sich, geopolitische Strukturen bröckelten, die Covid-Pandemie schlug ein, Kriege rückten näher. Klimaschutz rutschte auf den Prioritätenlisten ab, Infrastruktur, Digitalisierung und Sicherheitsthemen drängten sich in den Vordergrund.
Statt günstiger erneuerbarer Energie blieben alte und entstanden neue Abhängigkeiten: teure fossile Importe aus dem Westen, Solarpaneele aus China und neue Autos mit Verbrennungsmotoren. Plötzlich sollten sogar Atomkraft und die Rüstungsindustrie für Nachhaltigkeit stehen.
Parallel zu all dem wuchsen die Attacken auf die Demokratie, sowohl von innen als auch von außen. Cyberangriffe aus allen Richtungen, Polarisierung der Gesellschaft wie nie zuvor. Mit der zweiten Amtsperiode von Donald Trump ist auf die USA als Demokratieverteidiger kein Verlass mehr.
Großbritannien hatte die EU da schon verlassen. Ungarn und weitere EU-Mitgliedsstaaten sehen in Demokratie auch keinen großen Wert mehr.
Politische Debatten mutieren zu Machtkämpfen
Die politischen Debatten drehen sich nicht um Lösungen in der Sache, sondern mutieren in reine Machtkämpfe. Auf jedes Argument findet sich immer ein Gegenargument, Verständnis und Annäherung in der Sache scheinen nicht mehr möglich.
Jede Partei muss ihr eigenes Stück Kuchen als Trophäe vorzeigen können. Spaltungen vertiefen sich. Auf Bürgerinnen und Bürger wird, so der Eindruck, nicht viel und nicht gern gehört. So ziehen sich viele frustriert zurück, beteiligen sich nicht mehr an gesellschaftlichen Auseinandersetzungen oder radikalisieren sich. Immer mehr Menschen leiden schwer unter Hoffnungslosigkeit und Depressionen.
Helena Peltonen
ist ehrenamtliche Aktivistin und Trainerin in zivilgesellschaftlichen Organisationen wie Transparency Deutschland, Mehr Demokratie und Zukunftsrat Hamburg. Nach 35 Jahren Berufserfahrung in internationalen Behörden und Konzernen engagiert sie sich heute im Ruhestand besonders für die Stärkung der demokratischen Grundlagen, die für eine nachhaltige Transformation erforderlich sind.
Nun melden sich Psychologie und Neurowissenschaften nicht nur in wissenschaftlichen Veröffentlichungen, sondern in der Öffentlichkeit zu Wort. Sie erinnern daran, dass die Entwicklungsgeschichte des Menschen beweist, dass wir soziale Wesen sind und nur gemeinsam überleben.
Sie erklären, dass wir alle Sicherheit brauchen und Vertrauen suchen. Dies treffe nicht nur auf die Menschen auf der Straße, sondern genauso auf Konzernmanager und Politiker zu. Als Gesellschaft können wir Sicherheit, Vertrauen und Zuversicht nur aus der Gemeinschaft mit anderen Menschen schöpfen.
Zivilgesellschaftliche Gruppen, unterstützt von Psychologen und Neurowissenschaftlern, stellen sich der Radikalisierung, dem Hass und der Hetze entgegen, propagieren Methoden der gewaltfreien Kommunikation, bieten Trainings für persönliche Resilienz und für Verhandlungsführung an.
Von all dem war und ist auch ein Verein wie "Mehr Demokratie" betroffen. Er musste innen wie nach außen mit dieser neuen Lage umgehen. Ein Entwicklungsprozess, der sicher noch nicht abgeschlossen ist.
Neue Kraft aus dem Zuhören schöpfen
Jahrzehntelang hatte "Mehr Demokratie" dafür gekämpft, dass Politik und Verwaltung den Bürgerinnen und Bürgern zuhören und direkte Demokratie ermöglichen sollen. Das tut der Verein bis heute.
Er setzte sich auch für dialogbasierte Formate wie Bürgerräte ein, als die Parteien – fälschlicherweise – vor einigen Jahren aus Angst davor zurückschreckten. Mit Bürgerräten fremdelt vor allem die Politik auf Bundesebene immer noch.
Die vermutlich wichtigste Erkenntnis war, dass wir eine neue Kraft schöpfen, wenn wir Bürgerinnen und Bürger uns erst einmal untereinander zuhören. Das Format "Sprechen & Zuhören" entstand.
In Kleingruppen von vier Personen treffen sich dabei Leute zu einem gemeinsamen Thema X. Alle erhalten gleich viel Redezeit: drei Runden zu je vier Minuten pro Person.
Während eine Person spricht, hören die anderen aufmerksam zu. Alle sprechen nur über sich selbst und ihre Gefühle, ihr Befinden mit Bezug zur Sache: "Wie geht es mir mit Thema X?"
Es findet keine Debatte statt. Es wird nicht nach einer Lösung gesucht. Das Erstaunliche ist: Empathie, Nähe entsteht und Verständnis für die anderen Beteiligten.
Große Übereinstimmung bei Grundhaltungen zum Klimaschutz
Dass wir alle eine lebenswerte Zukunft wollen, zeigt eine im Juni veröffentlichte Eurobarometer-Umfrage zum Klima. 84 Prozent der Deutschen und 85 Prozent der EU-Bürger sind danach überzeugt, dass der Klimawandel ein sehr oder ziemlich schwerwiegendes Problem ist und seine Bekämpfung eine Priorität sein sollte, um Gesundheit und Lebensqualität zu verbessern.
In Deutschland stimmen laut der Umfrage 91 Prozent (EU 88 Prozent) der Aussage voll zu, dass die grüne Transformation niemanden zurücklassen darf. Etwa ebenso viel Unterstützung genießen die Investitionen in öffentliche Verkehrsinfrastruktur und die Subventionen für energetische Sanierungen.
Das EU-Ziel der Klimaneutralität bis 2050 befürworten acht von zehn Deutschen wie auch EU-Bürgern. Ähnlich viele fühlen auch eine persönliche Verantwortung für den Klimaschutz. Schließlich sind drei von vier Bürgerinnen und Bürgern überzeugt, dass die Schäden des Klimawandels erheblich höher sein werden als die Kosten der Transformation.
Bei den Grundhaltungen zum Klimaschutz herrscht also viel Übereinstimmung – ein großes Potenzial für Deutschland und ganz Europa. Naturgemäß entstehen Unterschiede, wenn es um das konkrete "Wie" geht.
Je nach persönlicher Situation, Biografie, Erfahrungen und Umfeld werden die Präferenzen unterschiedlich ausfallen. Aber nach einem genauen Zuhören und Verstehen der anderen Sichtweisen ist das Potenzial für Kompromissfindung enorm.
Je öfter wir vor einer Verhandlungssituation einen Austausch im Sinne von "Sprechen & Zuhören" vorschalten können, desto größer sind die Chancen, Lösungsansätze zu finden, mit denen die Mehrheit und die Minderheiten gut leben können. Das ist unser grundgesetzlicher Auftrag.
Umweltkrise und Demokratie
Hartmut Graßl ist einer der bedeutendsten Klimaforscher unserer Zeit. Zu seinem 85. Geburtstag veranstaltet die Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) am 25. September 2025 in Hamburg das interdisziplinäre und intergenerationelle Symposium "Von den Alpen bis zum Watt". Es geht um Themen, die Hartmut Graßl besonders bewegen: Ursachen und Folgen der Klimakrise, Verlust von Biodiversität – und wie eine gerechte sozial-ökologische Transformation gelingen kann. Klimareporter°, zu dessen Herausgeberrat Graßl gehört, ist Medienpartner und begleitet das Symposium mit einer Beitragsserie.

Seltsam mutet folgende Passage an: "Großbritannien hatte die EU da schon verlassen. Ungarn und weitere EU-Mitgliedsstaaten sehen in Demokratie auch keinen großen Wert mehr."
Das klingt, als sei Britannien nicht bloss aus der EU ausgetreten, sondern habe gleichzeitig die Staatsform geändert. Und noch absurder, dass die EU ein sozusagen vorbildlich (bürgerlich-)demokratisches Gebilde sei.