Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrates erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Sebastian Sladek, geschäftsführender Vorstand der Elektrizitätswerke Schönau (EWS).
Klimareporter°: Herr Sladek, der WWF und das Öko-Institut legten diese Woche eine Studie vor, wonach Deutschland selbst bei Klimaneutralität 2045 sein CO2-Budget fürs 1,5‑Grad-Ziel um mehrere Milliarden Tonnen überzieht. Deutlich früher klimaneutral zu werden halten die Studienautoren aber für ausgeschlossen.
Dagegen rechnet eine Studie der HTW Berlin vor, Deutschland könnte schon 2035 zumindest eine CO2-neutrale Energieversorgung haben und käme damit auf den 1,5‑Grad-Pfad. Dafür müsste aber die Solarstromleistung verzehnfacht werden. Jedes Jahr müssten dann 45.000 Megawatt Photovoltaik hinzukommen – fast so viel, wie heute vorhanden ist. Welches Szenario halten Sie für realistischer?
Sebastian Sladek: Beide Szenarien sind ambitioniert – und doch nicht ambitioniert genug, wie das Verfehlen des 1,5‑Grad-Ziels offenlegt. Auch mit einer CO2-neutralen Energieversorgung 2035 blieben ja immer noch die Sektoren Wärme, Verkehr und Landwirtschaft, in denen wir unsere Ziele für 1,5 Grad noch nicht erreicht hätten.
Mit den jeweils ausgegebenen "Zielmarken" sind wir also gar nicht wirklich am Ziel. Und das Dilemma vertieft sich, wenn man auf das letzte Jahrzehnt zurückblickt – denn dann möchte man grundsätzlich keines der beiden Szenarien für durchführbar halten.
Bleiben wir also realistisch und versuchen wir das Unmögliche. Das bedeutet: Wir müssen bereits vor 2045 sektorübergreifende Klimaneutralität erreichen, um unser CO2-Restbudget einzuhalten. Und das bedeutet weiter, wir werden noch mehr als die 45.000 Megawatt Photovoltaik pro Jahr installieren müssen.
Aber bereits das Ausbaupotenzial für Kleinsolaranlagen liegt bei 12.000 bis 14.000 Megawatt pro Jahr bis 2030, wie eine von EWS in Auftrag gegebene Studie im vergangenen Jahr ermittelt hat.
Ein bisher wenig beachteter Satz im Koalitionsvertrag der Ampel lautet: "Mit der Vollendung des Kohleausstiegs werden wir die Förderung der erneuerbaren Energien auslaufen lassen." Laut dem Vertrag soll ja der Kohleausstieg "idealerweise" schon 2030 vollzogen sein. Brauchen wir dann wirklich keine Förderung der Erneuerbaren mehr?
Vorausgesetzt, mit vollendetem Kohleausstieg ist die wegfallende Erzeugungsleistung durch Erneuerbare und nicht etwa durch Gaskraftwerke ersetzt worden, würde ich zustimmen. Eine Förderung der Erneuerbaren würde ich dann allenfalls noch im Bereich der Privatimmobilien sehen.
Damit die Erneuerbaren-Förderung enden kann, sind neben dem Kohleausstieg aber noch eine ganze Reihe von Maßnahmen notwendig. Die Preisbildung der Energiebörsen wird sich nicht länger an Grenzkosten orientieren, muss also reformiert werden. Speichertechnologien müssen mittels Investitionsprogrammen ins Feld gebracht, ihre Rolle als Marktakteur muss geklärt werden. Viele wichtige Inhalte des Erneuerbare-Energien-Gesetzes jenseits der Förderung müssen in andere oder neue Branchengesetze überführt werden.
Last but not least muss der Erneuerbaren-Ausbau entsprechend umfangreich sein – "idealerweise" bis 2030. Von einem Ende der Erneuerbaren-Förderung sind wir also noch ein gutes Stück entfernt.
Die Klimabewegung diskutiert nach dem für sie enttäuschenden Koalitionsvertrag, ob sie radikaler werden muss. Die Protestformen müssten sich transformieren, ziviler Ungehorsam und "friedliche Sabotage" sollten dabei im Zentrum stehen, schreibt der Aktivist Tino Pfaff in einem Gastbeitrag. Die Elektrizitätswerke Schönau gehen auf eine Bewegung zurück, die als "Stromrebellen aus dem Schwarzwald" bundesweit bekannt wurde. Ist mehr Rebellentum heute wieder gefragt?
Das ist eine etwas zweischneidige Frage, schaut man sich an, wie viele und welche Fraktionen und Gesinnungsgruppen heute eine Art von Rebellentum für sich beanspruchen. Gleichwohl bin ich sehr für kritische, mündige Bürger:innen und insofern auch für Rebellentum – das sich selbstredend niemals gegen Leib und Leben richtet, auch die Grenze zu einem sinnlosen Vandalismus nicht überschreitet.
Ohne zivilen Ungehorsam und, ja, auch ohne Sachbeschädigung hätte die deutsche Anti-Atom-Bewegung niemals den Atomausstieg erreichen können. Ohne zivilen Ungehorsam – das Schuleschwänzen – würde Fridays for Future wahrscheinlich nicht nur anders heißen, sondern hätte bei Weitem nicht diese Aufmerksamkeit bekommen – und ohne diese Aufmerksamkeit gäbe es heute kein deutsches Klimaschutzgesetz.
Rebellentum und der Druck der Straße sind also für die Weiterentwicklung von Staaten ungeheuer wichtig – nicht nur heute wieder, sondern immer schon.
Und was war Ihre Überraschung der Woche?
Dass die Sieben-Tage-Inzidenzen im Verlauf der Woche gesunken sind, hat mich tatsächlich überrascht. Denn eigentlich war es in Sachen Corona-Maßnahmen wie bei anderen Baustellen auch: Es wurde sehr viel geredet, aber wenig getan. In Bezug auf den Klimawandel jedenfalls werden wir mit dieser Art "wundersamer Selbsterholung" kaum rechnen dürfen.
Fragen: Jörg Staude