Michael Müller. (Bild: Martin Sieber)

Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrats erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Michael Müller, als SPD-​Politiker bis 2009 Parlamentarischer Staatssekretär im Umweltministerium, heute Bundesvorsitzender der Naturfreunde Deutschlands.

Klimareporter°: Herr Müller, unter der Ampel-Regierung gab es Fortschritte im Klimaschutz, befand diese Woche der Expertenrat für Klimafragen. Diese reichten aber nicht aus, damit Deutschland sein Klimaziel für 2030 erreicht und die CO2-Emissionen um 65 Prozent reduziert. Die neue Bundesregierung muss noch 2025 ein neues Klimaschutzprogramm vorlegen. Was würden Sie in das Programm schreiben?

Ich teile die Position des Expertenrats nicht. Die vermeintlichen Fortschritte gingen vor allem auf den Minderverbrauch an Energie in der Folge von zwei tiefen Einschnitten zurück: zum einen die Corona-Krise, zum anderen die wirtschaftliche Depression. Ist das Fortschritt? Ich warne davor, diese starken exogenen Faktoren als "Klimapolitik" anzusehen.

Das würde die Umwelt- und Klimabewegung sogar in der Gesellschaft isolieren oder die Klimapolitik zu einem elitären Mittelschichtsthema machen, das die sozialen Faktoren ausblendet. Das geht nicht, dafür sind die anthropogenen Verletzungen des Erdsystems zu wichtig. Sie sind eine gesellschaftliche Herausforderung und müssen deshalb von der Breite der Gesellschaft getragen werden.

Natürlich müssen wir weg von Wachstum zu einer nachhaltigen Entwicklung, damit erbitterte Verteilungskämpfe und die Vertiefung der Spaltung der Welt vermieden werden. Das muss aber das Ergebnis einer sozialen und ökologischen Gestaltung der Transformation sein und nicht das Ergebnis wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Krisen. Ich sehe leider nicht, dass die Klimapolitik ins Zentrum innerer und äußerer Reformen gerückt wurde.

Auch kein Fortschritt war die Aufteilung der Klimapolitik auf drei Ministerien in der Ampel, und ich sehe nicht, dass es eine Gesamtstrategie hin zur Nachhaltigkeit gibt. Im Gegenteil: Auch die Leitidee der Nachhaltigkeit wurde immer mehr entleert, ist zu einem Plastikwort verkümmert. 

Was wir brauchen, ist eine doppelte Kraftanstrengung: Zum einen brauchen wir eine ökologische Dienstleistungs- und Industriepolitik. Zum anderen eine Zusammenführung von sozialer und ökologischer Gestaltung der Transformation. Beides muss zu einer Einheit werden. Das geht nur, wenn der Klimaschutz die Grundlage der Regierungspolitik wird und nicht ein Bereich neben anderen Bereichen bleibt.

Für einen wirksamen Klimaschutz müssen auch die "Wendestrategien" vier Faktoren miteinander verbinden: erstens Effizienzrevolution, also eine stärkere Steigerung der Energie- und Ressourcenproduktivität als das Bruttoinlandsprodukt, zweitens Umstieg auf eine solare Energieversorgung und Kreislaufwirtschaft, drittens Suffizienz, also Genügsamkeit bei mehr Verteilungsgerechtigkeit, denn die Erde muss "Ballast" abwerfen, viertens mehr Demokratie in Wirtschaft und Gesellschaft. 

Um auf den Expertenrat zurückzukommen: Ich sehe nicht, dass dort eine solche Grundlage zur Bewertung der Lage existiert. Auch der "progressive" Neoliberalismus ist immer noch ein Neoliberalismus.

Abgesehen von einem Seitenhieb gegen das Heizungsgesetz der Ampel-Regierung findet sich im "Sofortprogramm" der Union zur Bundestagswahl kaum etwas Substanzielles zu Energie- und Klimapolitik. Die Themen Klima und Energiewende gelten als Wählerschreck. Wie konnte es so weit kommen und lässt sich das noch ändern?

Ende der 1980er Jahre war die Union mit Bernd Schmidbauer sogar weiter als die Grünen mit Wilhelm Knabe, der damals für das Thema die Verantwortung trug, während die Partei auf Bundesebene erst 1990 das Klima für sich entdeckte.

Dass die Union damals weiter war, lag auch an Helmut Kohl. Der CDU-Kanzler war unter Bezug auf den Schutz der Tropenwälder und das christliche Gebot der Bewahrung der Schöpfung an Umwelt- und Klimafragen interessiert. Deshalb auch sein Wunsch, den Regenwald bei einem Besuch in Brasilien ausführlicher kennenzulernen. Anschließend kam es zu einem Unterstützungsprogramm zum Schutz der immergrünen und feuchtgrünen Urwälder Brasiliens.

Das war aber vorbei, als die Spitzen der Wirtschaft – ich glaube, es war 1992 – bei Kohl intervenierten und ihn unter Druck setzen, die "Öko-Spinnerei" zu beenden. Damals hatte sich die Union sogar für die Ökosteuer geöffnet, die Verantwortung dafür hatte Wolfgang Schäuble.

Das ist längst vorbei. Und es zeigt sich, dass die großen Töne von Andreas Jung, dem für Umweltpolitik zuständigen Vize der CDU/CSU-Fraktion, keine große Unterfütterung und Unterstützung haben. Ich habe bisher nicht gehört, dass Friedrich Merz etwas Bemerkenswertes zu Ökologie und Klima gesagt hat.

Dabei gehört auch das zu dem von ihm gehypten Migrationsthema dazu, denn ein Teil derer, die kommen, sind "Umwelt- und Klimaflüchtlinge". Und ihre Zahl wird, wenn das Erdsystem nicht stabilisiert wird, zunehmen.

Aber Wahlkampf heißt heute offenbar, den nationalistischen Populismus aufzugreifen. Das ist heute die Spaltungslinie in unserem Land.

In den USA hat die Trump-Administration veranlasst, dass auf allen Regierungs-Websites Verweise auf die Klimakrise gelöscht werden. Berichten zufolge sollen auch die Mittel für die nationale Wetterbehörde NOAA gekürzt und dort ein massiver Stellenabbau durchgesetzt werden. Bekommen jetzt die Klimaleugner auf Jahre hin die Oberhand, und das nicht nur in den USA?

US-Präsident Donald Trump macht Politik wie ein Arbitrage-Geschäftsmann: Alles ist ein Deal, der auf den kurzfristigen Gewinn ausgerichtet ist. Trump tut alles, damit nur die USA bestimmen, was im Interesse seiner Wähler und Wählerinnen im Land zu tun ist, nicht die UN oder der Weltklimarat IPCC. Die Welt zählt nicht, es sei denn als Absatzmarkt für amerikanische Produkte. Klimaschutz ist unbequem, teuer und anstrengend. Das ist nichts für den "Macher" Trump.

Insgesamt eine traurige Entwicklung, denn die USA waren – etwa mit der Studie "Global 2000" von 1980 und generell in der Klimaforschung – einmal weltweit führend. Aber trotz der Katastrophen auch im eigenen Land, vor allem am Golf von Mexiko, machen die Fracking-USA einfach weiter, als gäbe es kein Morgen und keine kräftigen Warnschüsse der Natur.

Eine schmerzhaft tragische Entwicklung. Das liberale Amerika ist perdu, und Europa ist nicht stark genug, das aufzufangen.

Derzeit gibt es anscheinend kein wichtigeres Thema als die Zahl der Flüchtlinge, die im Land sind oder noch kommen wollen. Sie haben es erwähnt, die von Industrieländern wie Deutschland wesentlich verursachte Klimakrise wird in den kommenden Jahren und Jahrzehnten immer mehr Menschen zur Flucht zwingen. Wie müssen und sollen wir mit dieser Entwicklung umgehen? 

Wir müssen uns entscheiden: Ist der internationale Klimaschutz in erster Linie eine Verteilungsfrage auf den Klimakonferenzen – oder in erster Linie eine Frage des Vorbilds für eine erfolgreiche sozial und ökologisch gestaltete Transformation? Beides wird angesichts der Umbrüche in der Weltwirtschaft immer schwieriger, auch wenn wir natürlich eine Verbindung hinbekommen müssen. Ich fände es großartig, wenn die EU für den Klimaschutz so etwas planen und angehen würde wie China mit dem globalen Infrastrukturprojekt der Neuen Seidenstraße. Das wäre eine tolle Vision.

Die Dominanz der Migrationsfrage hat natürlich viel mit einem "schmutzigen" Wahlkampf zu tun. Dennoch gibt es leider auch Anlässe, die – hochstilisiert von einigen Boulevardblättern – das Thema emotionalisieren. So wie es für die Klimapolitik klare Prinzipien geben muss, ist das auch für die Migrationsfrage notwendig. Es reicht nicht aus, Massendemonstrationen gegen den neuen und alten Nationalismus zu organisieren. Die Menschen brauchen wieder Orientierung, was heute Fortschritt, Gemeinsinn und Gerechtigkeit ist.

 

Und was war Ihre Überraschung der Woche?

Dass selbst in der "heißen" Wahlkampfphase der Klimaschutz nur eine Randrolle einnimmt. Man kann den Glauben an die Politik verlieren.

Fragen: Jörg Staude, David Zauner

Anzeige