Klimareporter°: Frau Verlinden, bei der gegenwärtigen Bundesregierung besteht zum ersten Mal die Gefahr klimapolitischer Rückschritte, warnte kürzlich Brigitte Knopf, ehemaliges Mitglied des Expertenrats für Klimafragen. Hat sie recht?
Julia Verlinden: Absolut. Wir beobachten genau das: Die Bundesregierung dreht den Klimaschutz aktiv zurück. Dieses Rollback geschieht im Interesse der fossilen Lobby. Dem stellen wir uns als Grüne im Parlament und in der öffentlichen Debatte entgegen. Wir laden alle ein, dabei mitzumachen.
Zum Widerstand kommen wir noch. Was das Rollback betrifft: Es war ein ziemlich einmaliger Vorgang, dass eine Wirtschaftsministerin ein von ihr selbst bestelltes Gutachten zum Energiewende-Monitoring inhaltlich ignoriert und politische Schlüsse verkündet, für die die Studie gar keine Grundlage abgibt. Ist so viel Ignoranz gegenüber der Wissenschaft nicht ein neues Phänomen?
Auf jeden Fall hat sich die Wirtschaftsministerin damit ziemlich blamiert. Die Energiewende ist auf einem guten Weg, bekommt Katherina Reiche im Monitoring-Bericht bescheinigt. Sie aber sucht händeringend nach Begründungen für ihre Bremsklotzpolitik und will diese – entgegen dem Gutachten – durchsetzen.
Das ist ein weiterer Beleg dafür, dass die Bundesregierung – und Reiche ist vornweg dabei – nicht im Interesse des Klimaschutzes, der Unternehmen und der Menschen in Deutschland agiert. Sie handelt im Sinne fossiler Geschäftsmodelle, die mit dem Verbrennen des Planeten noch ein paar Jahre lang mehr Milliarden verdienen wollen.
Passend dazu stellen Unionspolitiker Forderungen auf, die Klimaziele zu revidieren. Die für 2045 beschlossene Klimaneutralität soll nicht nur zeitlich nach hinten verschoben, sondern mit einer CO2-Reduktion um nur noch 90 oder gar 80 Prozent ganz aufgegeben werden. Sind das nur Testballons, wie weit man gehen kann?
Ich halte diese Signale für fatal und nehme sie sehr ernst. Wenn Vertreter der Koalitionsfraktionen öffentlich darüber philosophieren, ob internationale Abkommen gebrochen werden sollen, ist das eine schlechte Nachricht gerade für den Wirtschaftsstandort Deutschland.
Der Zickzackkurs der Bundesregierung beim Klimaschutz schadet gerade denjenigen, die Sicherheit für ihre Planungen und Investitionen brauchen. Überall auf der Welt wird mit Klimaschutztechnologien Geld verdient, aber in Deutschland will die Bundesregierung das nicht? Das ist doch absurd!
Der Druck auf die Klimaziele hinterließ auch bei den Grünen Spuren, denkt man an die Zweifel Ihrer Fraktionschefin Katharina Dröge oder des grünen Spitzenkandidaten in Baden-Württemberg, Cem Özdemir, am Verbrenner-Aus 2035.
Für die grüne Bundestagsfraktion und insbesondere unsere Fraktionsvorsitzende Katharina Dröge ist ganz klar, dass die Zukunft des Autos elektrisch ist. Spätestens am 31. Dezember 2034 wird Schluss sein mit dem Verkauf stinkender, rußender und lärmender Verbrenner-Autos.
Wir als grüne Fraktion stellen eigentlich die Speerspitze der Planungssicherheit für die Zukunft der Autoindustrie dar.
Wir finden, dass es auch klug wäre, wenn die Bundesregierung nicht jede Woche eine neue Sau durchs Dorf treibt, sondern sich an den europäischen Green Deal hält mit seinen verschiedenen Bausteinen. Diese dienen dem Klimaschutz, aber auch der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen in Europa.
Wie viele Schreiben von Betriebsräten der Autoindustrie oder der IG Metall bekommen Sie Woche für Woche, die Sie auffordern, Ihre Position zum Verbrenner-Aus 2035 zu überdenken? Entsteht da nicht ein gewisser Druck?
Wir stehen im Austausch mit Gewerkschaften und Vertretern der Autoverbände. Wer mit mir dazu diskutiert, dem sage ich, dass es für mich eine Zukunft des Autos und auch der Autoindustrie nur geben kann, wenn sie sich danach richtet, was sich perspektivisch als Nachfrage abzeichnet – und das sind kleine und bezahlbare E‑Autos.
Dazu kommen als Zukunftsmarkt beispielsweise noch E‑Busse. Wir wissen, dass gerade viele Kommunen ihren öffentlichen Nahverkehr entsprechend umstellen. Es wäre doch schade, wenn diese Produkte nicht in Deutschland hergestellt würden.
Julia Verlinden
ist seit 2013 Bundestagsabgeordnete der Grünen. Die studierte Umweltwissenschaftlerin aus Lüneburg war acht Jahre Sprecherin für Energiepolitik ihrer Fraktion. Seit vier Jahren koordiniert sie als Fraktionsvize die parlamentarische Arbeit in den Bereichen Klima, Energie, Verkehr, Bauen, Umwelt, Landwirtschaft und Tourismus.
Wie sehen denn Ihre Möglichkeiten als zweitkleinste Fraktion des Bundestages aus, eine "Speerspitze" zu sein?
Für uns geht es darum, sich in und außerhalb des Parlaments jedem Versuch eines Rollbacks bei Umwelt und Klimaschutz entgegenzustellen. Wir sprechen aus, dass die alten, fossilen Geschäftsmodelle enden werden und dass uns allein der Import von Kohle, Gas und Öl nach Deutschland jährlich 70 Milliarden Euro kostet.
Auf dieses Geschäft wollen die fossilen Konzerne nicht verzichten. Verschiedene Bundesminister und auch der Bundeskanzler machen sich zum Gehilfen dieser Geschäfte.
Klimaschutz ist eine Machtfrage und wir stellen diese Machtfrage – im Parlament und in der öffentlichen Debatte.
Die Erzählung der fossilen Lobby entwickelt sich aber auch weiter. So wird die Notwendigkeit der Nutzung einheimischer Rohstoffe, darunter auch des heimischen Erdgases von Borkum, mit der damit einhergehenden Unabhängigkeit von Rohstofflieferungen aus Autokratien begründet. Muss sich Klimapolitik darauf nicht einstellen?
Auch Klimapolitik muss an der einen oder anderen Stelle nachjustiert werden, so etwa beim Strommarktdesign oder der Ladeinfrastruktur. Immer ist zu prüfen, wie wirksam Klimaschutzinstrumente sind und wie sie wirksamer gemacht werden können.
Die Bundesregierung plant aber fast ausschließlich Schritte zurück. Deswegen kann ich das Argument nicht gelten lassen, dass eine Gasförderung vor Borkum zu mehr Unabhängigkeit führt.
Stattdessen wird die Gaspolitik von Wirtschaftsministerin Reiche die Gasnachfrage womöglich länger hoch halten. Damit würde sich unsere Volkswirtschaft abhängig von Trump und Co machen.
Unser Ziel ist die Unabhängigkeit von fossilen Rohstoffen. Die erlangen wir, indem wir die erneuerbaren Energien noch schneller ausbauen und die entsprechende Wertschöpfung im Land sichern.
Friedrich Merz steht vor dem Problem, dass er im Wahlkampf immer erzählt hat, mit der "grünen Wirtschaftspolitik" müsse Schluss sein. Will er dies nun umsetzen, bekommt er nahezu verzweifelt zu spüren, dass sich viele Unternehmen bereits auf den Weg gemacht haben und in Zukunftstechnologien investieren. Die stößt Merz jetzt vor den Kopf.
Die Debatte darum, ob in einem sensiblen Meeresgebiet wie vor Borkum fossile Brennstoffe gefördert werden sollen, ist völlig aus der Zeit gefallen.
Deshalb fordern wir die Koalition auf, das vom Kabinett bereits beschlossene Unitarisierungsabkommen im Parlament nicht zu verabschieden. Das Abkommen mit den Niederlanden stellt die Rechtsgrundlage für die Förderung vor Borkum dar und es könnte von einer Mehrheit im Bundestag noch gestoppt werden.
Zurück zum Widerstand – die Grünen haben ja einen "Herbst des Klimawiderstands" angekündigt. Wie sieht es hier mit Bündnispartnern wie der Erneuerbaren-Branche aus? In den 2010er Jahren gab es große Demonstrationen der Branche, bei denen Zehntausende auf die Straße gingen und die Energiewende vor dem Kentern retteten. Solche Aktionen sucht man heute vergebens.
Es wird sehr wichtig sein, dass Zukunftsbranchen und ihre Unternehmen in den nächsten Monaten sichtbar auf die Pläne der Bundesregierung reagieren. Ich halte es für sinnvoll, wenn die Branchenverbände das spätestens angehen, wenn konkrete Gesetzesinitiativen auf dem Tisch liegen.
Im Moment schürt die Wirtschaftsministerin vor allem damit Verunsicherung, indem sie sagt, wir müssten zum Beispiel bei der Unterstützung der Solarenergie etwas ändern – Katherina Reiche sagt aber nicht genau, wann, was und wie viel sie ändern will.
So besteht die Gefahr, dass diese Verunsicherung zu Investitionszurückhaltung führt. Auch wenn die Gesetze am Ende möglicherweise nicht so beschlossen werden, wie die Ministerin es glauben machen will, führt es dennoch dazu, dass die Wünsche der fossilen Lobby aufgehen.
Eigentlich müsste der für nationalen und internationalen Klimaschutz zuständige Bundesumweltminister der oberste Klimaschützer in der Regierung sein. Wird Carsten Schneider dieser Aufgabe gerecht?
Ich sehe, dass alle Kabinettsmitglieder mehr oder weniger Teil des Rollbacks sind. Carsten Schneider hat sich einen wichtigen Hebel für Klimaschutz aus der Hand nehmen lassen, als Bundeskanzler Merz kürzlich durchsetzte, dass über das EU-Klimaziel für 2040 nicht auf dem Umweltministerrat im September entschieden wird.
Der Umweltminister hat das geschehen lassen und ließ sich von Merz düpieren. Ich finde, als Klimaschutzminister wäre es seine Aufgabe, dem Rollback seiner Kabinettskolleg:innen Einhalt zu gebieten.
Bei dem Rollback spielen neben Merz und Reiche übrigens auch der Verkehrs-, der Landwirtschafts- und der Finanzminister sehr aktive Rollen. So subventioniert Finanzminister Klingbeil beispielsweise lieber fossiles Gas, anstatt die Stromsteuer für alle zu senken. Er ist auch mitverantwortlich dafür, dass wichtige Investitionen im Sondervermögen nicht in die richtige Richtung fließen.
Wenn es um Verbündete geht, wäre für die Grünen die Klimabewegung wichtig. Ohne einen wirksamen und demokratischen außerparlamentarischen Widerstand wird Ihre Fraktion keine "Speerspitze" sein können.
Erstmal bin ich froh, dass beim jüngsten Klimastreik im September sehr viele Menschen auf der Straße waren und deutlich machten, dass sie sich dem Rollback entgegenstellen.
Bei den Protesten auf Borkum traf ich viele Menschen, die sich über die eskalierende Klimakrise und zugleich auch um die Ökosysteme, den Meeresschutz und das sensible Wattenmeer Sorgen machen. Nur gesunde Meere, Wälder und Moore können auch bei der Stabilisierung der Atmosphäre helfen.
Für mich ist es wichtig, dass die Kämpfe um den Erhalt von Umwelt, Natur und Klima miteinander verbunden werden, dass wir sie gemeinsam adressieren und führen – in den Parlamenten und auf der Straße.
Nötig ist also keine neue Klimabewegung, sondern eine Kraft, in der Naturschutz, Umwelt und Ökologie zusammen gedacht und vertreten werden?
Da kommt die Ökologiebewegung ja her und ich sehe Anzeichen, dass das auch wieder stärker verknüpft wird. Die Aktionen gegen die Gasförderung bei Borkum sind schon eine Art Kristallisationspunkt für so eine Bewegung, wo Themen gemeinsam diskutiert und angesprochen werden.

Habeck war derjenige, der Gaskraftwerkneubauten bei der EU annonciert hat, in einem Umfang von ca. 12,5 GW. Das scheint in etwa das Maximum, das die EU zu akzeptieren bereit ist, weshalb die Lobby-Reiche vermutlich mit den von ihr gewünschten 20 GW auflaufen wird und aufs Habeck-Niveau zurückkreben muss. Mit anderen Worten - Habeck hat kein Problem mit Gas, auch nicht mit Frackgas, dem dreckigsten Zeug, das man zur Energieverfügbarmachung nutzen kann. Der Ausbau regenerativer Energiequellen wäre auch ohne ihn beschleunigt weitergegangen, schliesslich ist Deutschland vertraglich verpflichtet, klimarelevante Emissionen zu senken. Ich "glaube" nichts, ich stelle Tatsachen fest. Wie nahezu der komplette öffentlich sichtbare Teil der Grünen, liegt ihm die Revanche in Sachen Russland mehr am Herzen, als alles andere. Klima ist für ihn offensichtlich zweitrangig.