"Wenn de Mensch dohn deit, wat he kann, denn kann he nich mehr dohn, as he deit."
Helmut Schmidt am 5. Januar 1977 in einem Brief an Willy Brandt
Helmut Schmidt, ein großer deutscher und europäischer Staatsmann, ist tot. Am 23. Dezember 1918 in Hamburg geboren, wurde Schmidt 96 Jahre alt. Er gehörte, wie Marion Gräfin Dönhoff schrieb, "ohne Zweifel zu den fähigsten Politikern, die unser Land je hervorgebracht hat".
Schmidt war von 1974 bis 1982 Bundeskanzler. Er stieg in der zweiten Hälfte der 70er Jahre zur wahrscheinlich wichtigsten Führungsfigur der westlichen Industriestaaten auf.
Brandt und Schmidt – ein Ergänzungsverhältnis
Zusammen mit Willy Brandt prägte Schmidt unser Land in den 70er Jahren. Sie machten Schluss mit den verstaubten Verhältnissen der Adenauerzeit. Die Deutschen kehrten mit ihnen vollends in die Völkergemeinschaft zurück, mit Brandt als Friedenskanzler und Schmidt als Weltökonom und Krisenmanager.
Sie wollten ein europäisches Deutschland. Davon träumte Brandt schon im Exil, ähnlich Schmidt. Mit der Wirtschafts- und Währungsunion wollte er die Selbstbehauptung Europas.
Brandt und Schmidt müssen in einem Zusammenhang gesehen werden, im Miteinander, Nebeneinander und auch Gegeneinander. Betrachtet man die beiden Kanzlerschaften, dann wird schnell klar, wie sehr sich unser Land in deren Regierungszeit emanzipiert hat. Aber es war auch eine schwierige Beziehung, ein Ergänzungsverhältnis, wie der Psychologe Horst Eberhard Richter es nannte.
Sie waren Weggefährten und Rivalen: Der Emigrant Willy Brandt als Vertreter der befreiten Minderheit, der Wehrmachtssoldat Helmut Schmidt als Vertreter der besiegten Mehrheit. Für den einen wurde als Regierender Bürgermeister in Berlin der Mauerbau 1961, für den anderen als Hamburger Innensenator die Sturmflut 1962 das entscheidende Datum für den bundespolitischen Aufstieg.
Schmidt verstand Brandts "anderes Deutschland" nur begrenzt
Beide wollten den CDU-Staat überwinden und durch die Entspannungs- und Friedenspolitik ein neues Kapital in Europa beginnen. Schmidt unterstützte die Ostpolitik beim wichtigsten Verbündeten in Washington und was Polen anging, eilte er Brandt sogar voraus.
Sie standen aber auch im Gegensatz – bei der Nachrüstung und in der Entwicklungs- und Ökologiepolitik. Der Realpolitiker Schmidt, der die Kunst der Zuspitzung beherrschte und sich rasch Widersacher schuf, wollte politisch führen. Das war das "Projekt Schmidt".

Aber das andere Deutschland, das mehr Demokratie, mehr Vielfalt und neue Wege wollte, erreichte er nicht, trieb es sogar von der Partei weg. Seine Partei beschuldigte Schmidt des Hangs zur Zersplitterung und Träumerei. Die ökologischen Risiken hielt er zumindest für übertrieben, eine Wachstumskritik für grundfalsch.
Schmidt fürchtete, sich in Zweideutigkeiten zu verheddern. Er teilte die Welt auf in Pragmatiker und Idealisten. Erhard Eppler stand für ihn auf "der anderen Seite", welche die SPD zur "Lehrerpartei" machen wollte.
Streitpunkt Nato-Doppelbeschluss
Der Nato-Doppelbeschluss war in dieser Zeit der härteste Streit in der SPD. Er fand erst nach vier Jahren 1983 seinen Schlusspunkt, als Schmidt auf dem Kölner Sonderparteitag nach der für ihn schmerzhaften Niederlage Brandt keines Blickes würdigte. Vier Tage später, am 22. November 1981, begann die Stationierung der Pershing-Raketen aus den USA.
Der Konflikt um die Nachrüstung bündelte sich in der Frage: Hat die Sozialdemokratie Vertrauen ins Politische oder bleibt nur die militärische Drohgebärde? Ausgangspunkt war die Stationierung neuer SS-20 Mittelstreckenraketen mit Dreifachsprengköpfen, mit der die Sowjetunion begonnen hatte.
Helmut Schmidt wollte den Nato-Doppelbeschluss, der Moskau zum Einlenken zwingen sollte. Eine breite Friedensbewegung formierte sich und selbst die eigene Partei lehnte den Doppelbeschluss ab. In Köln machte sich die Partei ehrlich: Helmut Schmidt blieben nur dreizehn Befürworter. Aber es war für ihn keine Frage, dass die Sozialdemokratie seine politische Heimat bleibt, die "mein politisches Schicksal gewesen ist, von der mich niemand abdrängen wird, weder von außen noch von innen."
Schmidt dachte in festgefügten Zusammenhängen, die er nicht infrage stellte. Aber die Zeichen standen auf Veränderung, immer mehr Menschen sahen in der Überrüstung keinen Sinn mehr. Aber nicht Schmidt, sondern Gorbatschow war es, der Bewegung in die erstarrten Verhältnisse brachte und in Europa die Zäsur einleitete. So strebte auch Brandt mit den Grünen eine "Mehrheit diesseits der Union" an, Schmidt hielt das für abwegig. Den Klimawandel sah er weit weniger kritisch.
Schmidt griff zur Feder und schrieb – oft handschriftlich – ellenlange Briefe in einer Mischung aus Besorgnis, Ratschlägen und Forderungen, auch aus Unmut, Beschwerden und Kampfeslust. Schmidt betonte darin immer wieder den Unterschied zwischen Realpolitik und Vision, und zwar so sehr, dass Franz Müntefering die Frage stellte, ob Schmidt nicht selber als Idealist gesehen werden wollte, denn er suchte nach intellektueller Anerkennung.
Neue Aufgaben
Schmidt, der alles andere als zaghaft war, blieb in wichtigen Fragen ein Zweifler. Er tat sich sichtlich schwer, als Brandt ihm 1974 nach der Gulliaume-Enttarnung die Kanzlerschaft antrug. Schmidt sah große Herausforderungen heraufziehen. Er spürte die veränderten Vorzeichen in der Weltökonomie und sah die sich abzeichnenden Belastungen für den Wohlfahrtsstaat. Seine Antwort darauf hieß Kontinuität und Konzentration, nicht Umbau und neues Denken.
Aber die Zeit des außergewöhnlichen Wachstums, auf dem die soziale Marktwirtschaft aufbaute, war vorbei. Schmidt wollte zurück, blieb im Alten, obwohl in Großbritannien und USA die Weichen längst für den Finanzkapitalismus gestellt waren. Schmidts Feld wurde die Wirtschaftspolitik, aber er verkannte die Tragweite der Veränderungen. Ihm fehlte ein großes politisches und gesellschaftliches Projekt.
Dabei hatte Schmidt wichtige Ideen. Sie waren jedoch wie Managerrezepte, nicht aber darauf angelegt, dass sich die Menschen engagierten. Zusammen mit dem französischen Staatschef Valéry Giscard d'Estaing wollte er das europäische Gegenmodell gegen die US-amerikanische Dominanz- und Geldpolitik. In der Wirtschafts- und Finanzpolitik hinterließ er tiefe Spuren: vom Europäischen Währungssystem über die europäische Währungseinheit Ecu bis hin zum Euro. Oder der erste G6-Gipfel 1975 in Rambouillet.
Kanzler Schmidt verpasste das Reformprofil
Was wäre geworden, wenn Schmidt der Kanzler einer sozial-ökologischen Politik geworden wäre? Aber für ihn war das kein Thema. Dabei antizipierte er durchaus die heraufziehende Entwicklung: Verknappung des Erdöls, geringeres wirtschaftliches Wachstum, schwächelnder Dollar, Terrorismus.
Schmidt zog Schlussfolgerungen daraus, die im Hergebrachten blieben und nicht ausreichten. Er verkannte den Epochenwechsel, der alles, was bis dahin als gesichert galt, infrage stellte. So kam es zur Entfesselung der Geldpolitik und zum Aufstieg des Neoliberalismus.
Schmidt wollte zu jeder Zeit das Gesetz des Handelns in der Hand behalten – nach seinen Maßstäben, in denen Pflicht, Disziplin und Führungsstärke ganz oben standen. Er blieb der kompetente Sachwalter der alten westlichen Welt. Das Entstehen der Grünen tat der SPD weh. Aber Schmidt, der sich selber als "Grüner" beschrieb, sah die grüne Partei als "völlig unpolitisch, sogar politisch naiv" an, mit "viel Gleichgültigkeit gegenüber dem Staat".
Als 1982 Endzeitstimmung in Bonn herrschte, machte Schmidt in seiner Bundestagsrede zum Misstrauensvotum der CDU/CSU seinen inneren Kompass in zwölf Punkten klar: "Ich habe der sozialliberalen Koalition dreizehn Jahre lang gedient. Ich habe dies aus Überzeugung und mit innerer Befriedigung getan, weil ich wusste, dass dies ein notwendiger Dienst an unserem Land war."
In seinem Innersten wollte Schmidt nicht nur Macher sein. In längeren Fernsehinterviews versuchte er, die Grundzüge seiner Politik zu erklären. Er warb sogar in "Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie" theoretisch und moralisch für seine Politik der kleinen Schritte. Aber als Kanzler kam er nicht aus seiner Haut.
Wahrscheinlich nahm er auch deshalb das Angebot von Gerd Buccerius an, Mitherausgeber der Zeit zu werden. Er konnte nun die Rolle des großen Erklärers einnehmen, um schreibend zu allen wichtigen Fragen Stellung zu nehmen. In dieser Freiheit, so sah es Egon Bahr, habe Schmidt sich "zu einer Persönlichkeit auf hohem Podest" entwickelt.
Führung oder Führung?
Was wäre aus unserem Land geworden, hätte Brandt mehr Schmidt und Schmidt mehr Brandt gehabt? War das überhaupt möglich? Wohl kaum. "Natürlich lag mir an öffentlicher Anerkennung, aber die Antriebskraft lag woanders", sagte Helmut Schmidt 2008 im Gespräch mit Ulrich Wickert. "Wir kamen aus dem Krieg, wir haben viel Elend und Scheiße erlebt und wir waren alle entschlossen, einen Beitrag dazu zu leisten, dass all diese grauenhaften Dinge sich niemals wiederholen sollten in Deutschland." Das war seine langjährige Selbstvergewisserung.
Brandt dagegen ist stets Dissident geblieben. Die Welt rühmte Brandt als den "anderen Deutschen", aber Brandt blieb der Außenseiter. Schmidt, in dem die Mehrheit der Deutschen sich selbst sah, war dagegen einer von 19 Millionen deutschen Soldaten.
Helmut Schmidt war ein normaler Aufstiegsschüler aus Hamburg und innerlich noch unpolitisch, als er Wehrmachtssoldat wurde und sich als abgeordneter Beobachter angewidert von den Schauprozessen des Volksgerichtshofs an die Front versetzen ließ. Dass sein Leben Politik wurde, war nicht klar. Der Zweite Weltkrieg hat ihn geprägt. In seiner Jugend blieb Schmidt tastend und suchend; man hatte ihm früh beigebracht, gegen was er sein sollte, aber nicht wofür.
Als Kriegsgefangener wurde er durch den Einfluss älterer Kameraden Sozialdemokrat. Schmidt blieb Kant, Aurel oder Popper enger verbunden als Lassalle, Bebel oder Marx. Er setzte Führung an die erste Stelle und schrieb sich mit seinem Buch "Verteidigung oder Vergeltung" in die internationale militärstrategische Gemeinschaft.
Die Tür zu neuen sozialen und ökologischen Fragen hat Schmidt nicht geöffnet, schon gar nicht für eine Energie- oder Klimawende. Bis zuletzt hielt er an der Wachstumswirtschaft fest, wahrscheinlich wollte er nicht einmal den Ausstieg aus der Atomkraft.
Mit Schmidt ist Stillstand, ja Rückschritt in der Umweltpolitik verbunden. Schmidt ordnete seine Politik den weltwirtschaftlichen Zwängen unter, da blieb kein Platz für die ökologischen Alternativen. 1975 behauptete er auf Schloss Gymnich, die Umweltpolitik sei aus dem Ruder gelaufen.
Wenn gewachsene Gewissheiten infrage gestellt wurden, reagierte Schmidt meist mit Spott und Grobheit. Als Journalisten 1972 von ihm wissen wollten, was er von den Thesen des Club of Rome über die Grenzen des Wachstums halte, antwortete er sarkastisch: "Club of Rome? Nie gehört!"
Schmidt sah eine Gefahr für die "sozialdemokratische Identität". Er blieb ein Traditionalist. In Rage brachte ihn das Entstehen der Bürgerinitiativen, die er als Nachfolger der APO sah, statt wie Brandt in der Regierungserklärung von 1969 mehr Demokratie zu wagen.
Dennoch ist es keine Frage, dass Helmut Schmidt politischer war als die konservativen Kanzler, die ihm folgten. Aber er hätte zumindest die Tür öffnen müssen für die neuen sozialen und ökologischen Bewegungen. Und die hätten seine große politische Kraft für ihre Anliegen brauchen können. Das hätte unserem Land gutgetan.
Redaktioneller Hinweis: Michael Müller, ehemaliger SPD-Bundestagsabgeordneter und Umweltstaatssekretär, ist Mitherausgeber von Klimareporter°. Er war langjähriger politischer Weggefährte von Helmut Schmidt.