Michael Müller
Michael Müller. (Foto: Martin Sieber)
 

Immer wieder sonntags: Unsere Herausgeber erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Michael Müller, als SPD-​Politiker bis 2009 Parlamentarischer Staatssekretär im Umweltministerium, heute Bundesvorsitzender der Naturfreunde Deutschlands.

Klimareporter°: Herr Müller, Tausende haben bei der größten Anti-Kohle-Aktion des Bündnisses "Ende Gelände" vor einer Woche die Braunkohleförderung im Rheinischen Revier blockiert. In den letzten Wochen demonstrierten Zehntausende für den Kohleausstieg. Ist der in der Mitte der Gesellschaft angekommen?

Michael Müller: Meine Organisation, die Naturfreunde, deren Bundesvorsitzender ich bin, hat für den Trägerkreis die Kundgebung in Buir für den Kohleausstieg durchgesetzt. Vieles hat an die große Brokdorf-Demonstration im Jahr 1985 erinnert, als es eine "Latschdemo" gab, weil die Polizei auch damals großräumig abgesperrt hatte und die Teilnehmer lange Märsche zurücklegen mussten.

Am Hambacher Forst war aber noch stärker eine Aufbruchstimmung zu spüren. Es war das Symbol für den wachsenden Willen, das fossile Zeitalter zu beenden. Wenige Tage später haben vor allem die IG BCE und Mitarbeiter von RWE für den Erhalt der Arbeitsplätze demonstriert.

Ich kann die Sorgen um die Arbeitsplätze verstehen, aber ich will nicht hinnehmen, dass dies gegen den Kohleausstieg instrumentalisiert wird. Das Ende der fossilen Brennstoffe ist eine naturwissenschaftliche Notwendigkeit. Wenn das akzeptiert ist, sind die Umweltverbände ein starker Bündnispartner der Gewerkschaften für neue Arbeitsplätze und wirtschaftlichen Wohlstand in den drei Braunkohlerevieren.

Das, was dazu aus der Kohlekommission zu hören war, ist lächerlich. Wir brauchen eine gezielte regionale und sektorale Strukturpolitik, an der alle Ebenen – Gemeinden, Länder und Bund – beteiligt sind. Es gibt kein besseres Programm als Arbeit und Umwelt. Dafür müssen die Weichen gestellt werden.

In den Kohlerevieren ist die Stimmung mehr als angespannt, Bergleute gehen für ihre Jobs auf die Straße, die Regionen sind gespalten, der Tonfall wird härter. Was schlagen Sie zur Deeskalation vor?

Die Umweltbewegung muss klarmachen, dass es ihr nicht allein um die Kohle geht, sondern um die Menschheitsherausforderung Klimaschutz, deren Schlüsselfrage die schnelle und wirksame Reduktion von Kohlendioxid ist. Dabei geht es nicht nur um die Braunkohle, obwohl sie die größten Emittenten stellt und auch spezifisch einen sehr hohen CO2-Anteil hat.

Der Ausstieg ist eine naturwissenschaftliche Notwendigkeit, der nur dann friedlich und sozialverträglich möglich wird, wenn er die Konsequenzen mitbedenkt und wenn eine entsprechende Politik der sozial-ökologischen Transformation gemacht wird. Dafür müssen alle Beteiligten an einen Tisch und es muss ungleich mehr für den Umbau getan werden als die Verlagerung einer Bundesbehörde, die Verbesserung der Bahnanbindung und ein schnelles digitales Netz.

Aber genau da fängt es an: Die Bereitschaft fehlt, die wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Ressourcen auf die Modernisierung dieser drei Regionen zu lenken. Dabei könnte der Ausstieg aus der Braunkohle zu einem Vorbild für die anstehende Erneuerung der Infrastruktur werden, die unser Land zukunftsfähig macht. Bei einer Polarisierung verlieren alle.

Die Grünen erleben zurzeit einen Aufschwung, das hat zuletzt wieder die Hessen-Wahl gezeigt. Klimareporter°-Chefredakteur Joachim Wille spekulierte in einem Kommentar, ob eine Regierung ohne die Grünen bald vielleicht gar nicht mehr denkbar sei. Was meinen Sie?

Wir erleben den Niedergang der wohlfahrtsstaatlichen Wachstumsepoche, die in den letzten sechs, sieben Jahrzehnten Stabilität und Sicherheit gegeben hat. Das ist vorbei. Weil aber nicht klar ist, wie das Neue sozial, demokratisch und verträglich mit den ökologischen Anforderungen funktionieren kann, gibt es unterschiedliche Gegenbewegungen, die genauer hinterfragt werden müssen, ob sie auch Lösungen anbieten. Das ändert nichts an der berechtigten Kritik an der Groko.

In den großen Blöcken zwischen rechts und links verschieben sich die Kräfte, insgesamt rückt unser Land nach rechts. Wir müssen unter die Oberfläche der Erscheinungen schauen, was wirklich passiert. Der Maßstab darf nicht die Differenz sein, sondern ein neues, nachhaltiges Verständnis von gesellschaftlichem Fortschrit. Heute herrschen eher Stimmungen vor.

Man darf nicht vergessen, dass die Grünen in den letzten Jahren auch eher konservativer geworden sind. Insofern müssen wir darüber Klarheit schaffen, wie eine sozial-ökologische Transformation auszusehen hat. Das ist der Maßstab.

Ich plädiere nach wie vor für ein rot-grünes Projekt, weil es ohne eine starke soziale Demokratie und ohne eine starke ökologische Verträglichkeit, die sich miteinander verbinden müssen, keine neue Stabilität geben wird. Mir wird heute alles zu sehr an Personen und Stimmungen festgemacht. Ich möchte aber die Programmatik der Politik für Strukturreformen stärken.

Mit Jair Bolsonaro ist in Brasilien einer Präsident geworden, der für Homophobie, Rassismus, Sexismus, die Verherrlichung der früheren Militärdiktatur – und auch für die Abkehr von jeglicher Klima- und Umweltpolitik steht. Zum Verbleib im Pariser Klimaabkommen sendete er bislang gemischte Signale. Was würde der Ausstieg Brasiliens bedeuten?

Nach dem zweitgrößten CO2-Emittenten USA will auch der zwölftgrößte aussteigen, obwohl der Pariser Klimavertrag keine Schwächung, sondern eine Ausweitung und Verbindlichkeit braucht, soll das Ziel erreicht werden.

Brasilien zeigt eine sich ausbreitende Grundstimmung, die in die entgegengesetzte Richtung zeigt: Der Umweltschutz ist verantwortlich, dass Arbeitsplätze wegbrechen und Wirtschaftswachstum geschwächt wird.

Horrender Blödsinn, aber dennoch wirksam. Die Nationalisten sind weltweit auf dem Vormarsch. Das bedeutet, dass die Umweltbewegung unter Druck gerät, wenn sie nicht weitergehende Antworten gibt – sozial, ökologisch und demokratisch. Die Schlüsselfrage ist, ob das Gerechtigkeitsthema so ausgestaltet wird, dass es soziale und ökologische Anliegen miteinander verbindet. Kurz: Wir leben in einer Zeit tiefgreifender Umbrüche, in der ein wirkliches rot-grünes Projekt notwendig ist.

Und was war Ihre Überraschung der Woche?

Ich stehe noch immer unter dem Eindruck der Ereignisse am Hambacher Forst, der sich letzte Woche weiter verfestigt hat. Dort gab es die große Bereitschaft und Ernsthaftigkeit, sich für die Menschheitsfrage Klimaschutz zu engagieren. Doch es ging um mehr, die Hoffnung auf ein neues Modell von Wirtschaft und Zusammenleben.

Ich hoffe, dass erkannt wird, dass es in unserem Land eine große Zahl von Menschen gibt, die sich für eine sozial-ökologische Wende einsetzen und keine Polarisierung gegen die Beschäftigten wollen. Und die wir nicht enttäuschen dürfen, sondern auf allen Seiten zusammenführen müssen.

Fragen: Susanne Schwarz

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