Porträtaufnahme von Michael Müller.
Michael Müller. (Foto: Martin Sieber)

Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrats erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Michael Müller, als SPD-Politiker bis 2009 Parlamentarischer Staatssekretär im Umweltministerium, heute Bundesvorsitzender der Naturfreunde Deutschlands.

Klimareporter°: Herr Müller, die Bundesregierung hat es mit dem Bericht des Klima-Expertenrats nun schwarz auf weiß: Ihre Klimapolitik ist mangelhaft. Die Forderung, fällige Maßnahmen wie den Heizungstausch sozial gerecht zu gestalten, ist sicherlich richtig – aber warum stellt sich die SPD damit an die Seite der FDP und gegen die Grünen?

Michael Müller: Was soll neu sein an der Feststellung des Expertenrates für Klimafragen, dass der Klimaschutz mangelhaft ist? Wo aber waren die Damen und Herren des Rates in der Vergangenheit, vor allem in den 1990er Jahren, als es hoffnungsvolle Ansätze gab, die durch den Widerstand der Wirtschaftsverbände, vor allem von Vertretern aus der Chemieindustrie, kaputtgemacht wurden?

Und wo war ihre Stimme bei der verhängnisvollen Entscheidung, den Klimaschutz auf drei Ministerien aufzuteilen, statt – was richtig gewesen wäre – das Umweltministerium zum Nachhaltigkeitsministerium zu machen und zu stärken, mit Vetorechten im Kabinett gegen klimaschädliche Vorlagen und Gesetze?

Zudem müssen wir generell und sogar bei Klimasachverständigen über vorgeschlagene Empfehlungen reden, die nicht selten von einer öko-neoliberalen Denkweise geprägt sind.

Ja, die SPD steht sich häufig selbst im Weg. Allerdings ist das, was die Grünen an individualistischer Radikalität vertreten, leider auch alles andere als überzeugend und identitätsstiftend, vor allem unter sozialen Gesichtspunkten. Wie die soziale und ökologische Gestaltung der Transformation aussehen soll, bleibt unzureichend. Oft ist es die Perspektive einer kleinen Klientel, aber nicht der Gesellschaft.

Klimaschutz wird es nur geben, wenn die sozialen und ökologischen Ziele integrativ verfolgt werden und von Anfang an eine Einheit bilden, also das Soziale nicht kompensatorisch nachgeschaltet wird. Ich habe meine Zweifel, ob beispielsweise die zuständige Hausleitung im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz so denkt. Der Neoliberalismus hat auch dort tiefe Spuren hinterlassen.

Umso mehr ist es falsch, wenn die SPD sich in diesen Fragen mit der FDP verbündet, die in erster Linie dem Neoliberalismus anhängt. Sie sollte vielmehr eigenständig zeigen, wie eine sozial-ökologische Reformstrategie aussehen muss, die sich am Notwendigen und nicht an Parteitaktik orientiert.

Nachdem der Expertenrat die deutsche CO2-Bilanz für 2022 so kritisch bewertet hat, sollten wir da nicht das Klimaziel für 2030 ehrlicherweise beerdigen?

Das Problem ist, dass wir bereits bei 418 ppm CO2 in der Troposphäre sind und der Wert um 2,2 Punkte pro Jahr steigt. Es ist ein Selbstbetrug, wenn wir vom 1,5-Grad-Limit reden, das faktisch nämlich schon dieses Jahr mit 420 ppm erreicht wird, auch wenn das durch den Anpassungseffekt des Klimasystems erst später gemessen wird.

Kurz: Behauptungen wie "wir sind auf dem 1,5-Grad-Pfad" oder "klimaneutral" sind Frames, die für eine schlechte Werbung taugen, aber nicht für die Bewertung der großen Menschheitsfragen. Die Politik rechtfertigt sich mit dem scheinbar nur Möglichen, aber für den Schutz des Klimas geht es um das Notwendige.

Richtig ist, dass Deutschland allein die Klimakrise nicht bewältigen kann, aber leitend sollte sein, dass wir in unserer Gesellschaft zeigen können und zeigen müssen, wie der Umbau möglich wird. Und das ist überfällig.

Ab dem morgigen Montag will die Klimagruppe "Letzte Generation" die Hauptstadt weitgehend blockieren. Mit ihren bisher größten Aktionen soll der Druck auf die Bundesregierung erhöht werden. Ziel ist die Einberufung eines Gesellschaftsrates, der einen Maßnahmenkatalog aufstellt, um die Nutzung fossiler Energien bis 2030 zu beenden. Sind hier Utopisten am Werk, die auch noch die falschen Mittel anwenden, oder sollten wir alle bei den Blockadeaktionen mitmachen?

Jeder Protest gegen die unzureichende Klimapolitik kommt an drei Feststellungen nicht vorbei:

Erstens braucht der Klimaschutz, wie er notwendig wäre, eine breite gesellschaftliche Unterstützung, wenn er in einer Demokratie umgesetzt werden soll. Von daher muss er sozial gerecht und "mitnehmend" sein.

Zweitens treffen die Aktionsformen der "Letzten Generation" vor allem gesellschaftliche Gruppen, die sozial schwächer sind und oftmals individuell nur wenige Alternativen haben.

Drittens ist Protest noch kein Umbaukonzept. Die "positive Negation", wie es in der Studentenbewegung hieß, fehlt.

Gut ist, dass mit diesen Aktionen klar wird, dass es heute um die Existenz der Menschheit geht. Fatal ist – wenn auch wohl nicht beabsichtigt –, dass die sozialen Folgen der Aktionen eher vom Thema ablenken, statt die Bereitschaft zu fördern, gemeinsam zu einer konsequenten Klimaschutzstrategie zu kommen.

Ihr Kern ist die Einhaltung der ökologischen Grenzen des Wachstums. Wir müssen runter von den hohen Verbräuchen und der Inanspruchnahme der Natur, aber das geht, wenn die Klimaproteste eine positive Wirkung haben sollen, nur gemeinsam.

Die Anti-AKW-Bewegung wird weiter gebraucht, meint Wolfgang Ehmke, ein Atomgegner der ersten Stunde. Denn die Atomanlagen in Gronau und Lingen laufen trotz Atomausstieg weiter, und der hoch radioaktive Atommüll in den Hallen an den AKW-Standorten muss dort womöglich 100 Jahre bleiben. Was sollte sich die AKW-Bewegung Ihrer Meinung nach vornehmen?

Ich verstehe nicht, wieso die Schließung von Gronau und Lingen nicht in der Koalitionsvereinbarung steht, vor allem wegen der militärischen Missbrauchsmöglichkeiten, gerade in Gronau.

Die Antiatombewegung wird weiter gebraucht, auch weil Forderungen nach einem Neubau von EPR- und SMR-Reaktoren erhoben werden, zuletzt von Markus Söder, dem bayerischen Ministerpräsidenten.

Die EPR-Reaktoren sind sehr teuer, wie die Beispiele in China, Finnland, Frankreich oder Großbritannien zeigen. Sie sind, wenn ich die europäischen Baumaßnahmen sehe, mindestens 3,5- bis achtmal teurer als geplant. Und sie haben eine Bauzeit von mindestens zehn Jahren.

Deshalb hilft ein solcher unsinniger Neubau auch nicht beim Klimaschutz. Die nächsten 20 Jahre sind die Schlüsseljahre für die Reduktion von Treibhausgasen, in denen könnten sie gar nicht zur Verfügung stehen. Auch die Behauptung von der "Klimaneutralität der Kernkraft" ist falsch, weil nur der reine Betrieb im engeren Sinn bewertet wird.

Außerdem haben sich bei dem EPR in China auch gravierende technische Probleme gezeigt, die dann in Frankreich zu einer Verzögerung der Baumaßnahmen geführt haben. Gleichzeitig wird behauptet, die Erneuerbaren seien nicht stabil genug, etwa bei Dunkelflauten.

Auch um die wachsende Nachfrage nach klimaschonendem Strom für die Mobilität zu decken, sind nach Ansicht der Befürworter neue AKWs notwendig – was andere Länder auch schon als Ziel ausgegeben haben. Tatsächlich sind es aber oft militärische Ziele, die dabei verfolgt werden.

Wegen der neuen SMR-Reaktoren, die – wie überhaupt die Atomenergie – vor allem aus militärischen Interessen gefördert werden, brauchen wir ebenfalls weiter eine Antiatombewegung. Mit der Digitalisierung werden neue atomare Militärkonzepte in kleinen Formaten möglich, bei denen zum Beispiel auch Drohnen Mini-Nukes auf Ziele steuern können.

Hier geht es weniger um eine zivile Nutzung, an der zum Beispiel bei Terrapower gearbeitet wird. Eine perverse Entwicklung.

Und was war Ihre Überraschung der Woche?

Dass die Umweltbewegung, Fridays for Future oder die Letzte Generation bei den Ostermärschen der Friedensbewegung kaum präsent waren, eigentlich gar nicht. Dabei ist – um es mit Willy Brandt zu sagen – ohne Frieden alles nichts.

Das gilt heute angesichts des Ukraine-Krieges mehr denn je. Krieg ist einer der größten Klimazerstörer, er verschwendet Ressourcen, verhindert, das Notwendige zu tun.

Es hätte an den Friedensdemonstrationen eine massenhafte Beteiligung gerade junger Menschen geben müssen, denn Krieg zerstört vor allem ihre Zukunft. Klima und Krieg, das droht in der Zukunft eine der größten Gefahren zu werden.

Fragen: Jörg Staude

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