Luftaufnahme des Geothermiekraftwerks Hellisheiði auf Island.
Weil der Ausstieg aus Kohle, Öl und Gas nicht vorankommt, soll die Politik jetzt die Weichen stellen für umstrittene CCS-Verfahren, wie bei dieser Pilotanlage für "Direct Air Capture" in Island. (Foto: Árni Sæberg/​Helena Group Foundation/​Wikimedia Commons)

"Nicht mehr nur die Umweltministerin, alle Ministerien sind jetzt für die CO2-Reduktion zuständig. Mein Klimaschutzgesetz macht den Klimaschutz für alle verbindlich. Das ist ein Riesenschritt nach vorn." Kein Dreivierteljahr ist es her, dass die damalige Umwelt- und jetzige Entwicklungshilfeministerin Svenja Schulze (SPD) ihr Klimaschutzgesetz lobte mit seinen strengen Zielen für jeden einzelnen Sektor – Energie, Industrie, Verkehr, Gebäude, Landwirtschaft, Abfall.

Dass die Zersplitterung des Klimaschutzes auf Ministerebene wenig praktikabel ist, zeigte sich schon vergangenes Jahr beim Streit um das Sofortprogramm für den Gebäudebereich, der sein Sektorziel für 2020 gerissen hatte. Maßnahmen, um das vorgegebene CO2-Budget im Gebäudesektor in kurzer Zeit einzuhalten, gibt es entweder nicht oder sie sind zu teuer.

Für eine Aufweichung der strengen Sektorvorgaben setzt sich jetzt auch die Wissenschaftsplattform Klimaschutz ein. Das Expert:innengremium, das Schulze 2019 gemeinsam mit Forschungsministerin Anja Karliczek (CDU) eingesetzt hatte, soll die Bundesregierung bei der Klimaschutz-Strategie unterstützen und hat am Freitag seinen ersten Jahresbericht vorgelegt.

Das 145 Seiten starke Gutachten listet Maßnahmen auf, wie Klimaneutralität in Deutschland erreicht werden kann. So enthält der Bericht Vorschläge zur Weiterentwicklung der Klimapolitik in Deutschland und Europa sowie zur Wahl der Technologien für die Treibhausgasminderung.

In dem Bericht begrüßt das Gremium auch die im Klimaschutzgesetz vorgesehene Möglichkeit, die Sektorziele anzupassen. Dies sollte genutzt werden, um die "Effizienz" der Klimapolitik zu erhöhen, indem neue Entwicklungen und Erkenntnisse einbezogen werden, heißt es im Gutachten.

Deswegen sollten die sektoralen Jahresemissionsmengen alle zwei bis vier Jahre geprüft und auch stärker vorausschauend bewertet werden. Sogenannte Frühindikatoren für Emissionsminderungspfade könnten hier dazu beitragen, Klimaschutzmaßnahmen längerfristig auszurichten. Den Vorschlag hatte vor einigen Wochen auch schon das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin in einem Wochenbericht unterbreitet.

Wasserstoff zunächst aus Erdgas

Die Wissenschaftsplattform spricht in dem Gutachten weitere Streitfragen künftiger Klimapolitik an. So wird die Nutzung negativer Emissionen, um verbleibende nicht oder nur sehr schwierig reduzierbare Emissionen zu kompensieren, als unverzichtbarer Baustein für die Klimaneutralität angesehen, heißt es im Gutachten.

Neben natürlichen Senken wie Wäldern oder einer Anreicherung von Bodenkohlenstoff geht es dabei auch um umstrittene technologische Verfahren wie etwa die Entnahme von CO2 aus der Luft mit anschließender Speicherung in Gesteinen (DACCS) oder Biomasse-Verbrennung mit CO2-Speicherung (BECCS). 

Das "lang verpönte Thema der CO2-Entnahme aus der Luft und der unterirdischen Verpressung" müsse angepackt werden, betonte Ottmar Edenhofer, Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) und Co-Vorsitzender der Wissenschaftsplattform, anlässlich der Vorstellung des Gutachtens.

"Das brauchen wir, um trotz Restemissionen etwa aus der Landwirtschaft bis 2050 den Ausstoß von Treibhausgasen unter dem Strich auf null zu bringen, bei uns und weltweit. Nur so kriegen wir die Klimarisiken in den Griff." Deshalb, so Edenhofer, solle die Bundesregierung die Technologien zur "CO2-Entnahme" erforschen lassen und entsprechende Rahmenbedingungen und Infrastrukturen entwickeln.

Edenhofer hält auch Importe von "sauberer Energie", vor allem von Wasserstoff, für notwendig. Dafür brauche Deutschland einen Plan und Infrastruktur, sagte er. Frühestens 2040 werde genug grüner Wasserstoff aus heimischer Produktion oder aus Importen zur Verfügung stehen, um die Nachfrage etwa für die Stahlproduktion oder den Schwerlastverkehr zu decken, heißt es im Gutachten dazu.

In der Zwischenzeit solle blauer oder türkiser Wasserstoff aus Erdgas mit oder ohne CO2-Speicherung zum Einsatz kommen – auch wenn deren Klimabilanz schlechter ist. Allerdings sollte die Bundesregierung schon jetzt einen Prozess anstoßen, um transparent festlegen, wie viel blauer und türkiser Wasserstoff zum Einsatz kommen solle.

Aus Sicht der Wissenschaftler:innen soll sich Deutschland bei der EU auch dafür einsetzen, einen Emissionshandel für Gebäude und Verkehr zu schaffen. Die EU-Kommission hatte entsprechende Pläne für einen solchen Emissionshandel im vergangenen Juli angekündigt. Weil Deutschland seit dem vergangenen Jahr einen Brennstoff-Emissionshandel hat, solle die Bundesregierung darauf achten, dass der Anwendungsbereich des neuen europäischen Emissionshandels dem deutschen entspricht.

Verursacherprinzip in der Landwirtschaft

Die Wissenschaftsplattform verlangt auch mehr Aufmerksamkeit für weitere bisher vernachlässigte Bereiche. Insgesamt sei die Klimapolitik noch "lückenhaft", erklärte Sabine Schlacke, Direktorin des Instituts für Energie-, Umwelt- und Seerecht an der Uni Greifswald und Co-Vorsitzende der Plattform.

Für die Juristin muss in der Land- und Forstwirtschaft mehr passieren. Dort könnten Treibhausgase gebunden werden, zum Beispiel in wachsenden Wäldern oder durch schonenden Ackerbau, bei dem Feuchtgebiete erhalten bleiben. Dafür sollte es auch Geld geben, sagte Schlacke.

"Und wo Treibhausgase freigesetzt werden, vielleicht in der Tierhaltung oder bei Rodungen, sollten die Verursacher dafür zahlen." Im Gutachten selbst setzen sich die Expert:innen für solche Zahlungen bei landwirtschaftlichen Emissionen ein – etwa bei Methan aus der Rinderhaltung und Lachgas durch Dünger. "Bei Weitergabe des Preissignals wären auch – wünschenswerte – Anreize für klimafreundlichere Ernährungsweisen zu erwarten", heißt es weiter.

Um mehr Akzeptanz in der Bevölkerung zu erreichen, rät Schlacke, Bürgerinnen und Bürger unter anderem als Prosumer für klimaschützende Maßnahmen zu mobilisieren, wie das durch die Installation von Solaranlagen geschehe. Zu fördern seien etwa örtliche Energiegenossenschaften sowie Kleingewerbe, Städte und Gemeinden, um auch sie zu Gewinnern des Umbaus machen.

Anzeige