Die Anhörung begann. Als erste Frage servierte der CDU-Abgeordnete Jens Köppen dem Braunkohle-Lobbyverband Debriv gleich die berühmte "Verklammerungs"-Frage – und Verbandsgeschäftsführer Thorsten Diercks konnte die Geschichte vom unzertrennlichen Zusammenhang zwischen Kohletagebau und Kraftwerk aufwärmen.
Das liest sich in der Stellungnahme der Braunkohlebranche für die Anhörung so: "Ohne die Brennstoffversorgung durch einen in der Nachbarschaft gelegenen Braunkohletagebau kann ein Braunkohlekraftwerk nicht betrieben werden, und umgekehrt kann auch ein Braunkohlentagebau ohne ein in der Nähe befindliches Braunkohlekraftwerk oder einen Veredlungsbetrieb nicht existieren, da dem Tagebau andernfalls der meist einzige Abnehmer der Braunkohle fehlen würde."
Die Story über die Unzertrennlichen liebt die Braunkohlewirtschaft über alles. 2015 funktionierte sie noch so gut, dass ein Vorstoß des damaligen Bundeswirtschaftsministers Sigmar Gabriel (SPD) zum Kohleausstieg innerhalb weniger Wochen vereitelt wurde (Klimareporter° berichtete).
Ein Abschalten der ältesten Kohleblöcke würde auch moderne Blöcke in die Tiefe reißen, weil weniger Kraftwerke die Last der anhängenden Tagebaue schultern müssten, ließ sich damals die Kohlegewerkschaft IG BCE in einem bestellten Gutachten bescheinigen – die Schreckensformel vom "Domino-Effekt" ward geboren.
Keine Entschädigungen im Kohlerevier Halle/Leipzig?
Seither verlor die Geschichte aber erheblich an Schrecken, wurde von der Branche teilweise selbst demontiert. So verliert das Lausitzer Braunkohlekraftwerk Jänschwalde spätestens 2023 den letzten "in der Nachbarschaft" gelegenen Tagebau – das Kraftwerk selbst aber wird nicht zugleich dichtgemacht. Schon jetzt karrt der Eigentümer Leag jede Menge Kohle aus dem über 40 Kilometer entfernten Tagebau Welzow-Süd nach Jänschwalde.
Vor einigen Jahren lieferte der zweite ostdeutsche Kohlekonzern Mibrag sogar Braunkohle aus dem Revier Halle/Leipzig in das weit entfernte niedersächsische Kraftwerk Buschhaus oder nach Tschechien. Dann entschied sich die Mibrag 2016 doch lieber dafür, Buschhaus in die "Sicherheitsbereitschaft" zu schicken und dafür noch etliche Millionen zu kassieren.
Letztes Jahr legte der Eigner EnBW einen großen Braunkohleblock in Lippendorf über Wochen still – und verzichtete mal locker auf die Kohle aus dem benachbarten Mibrag-Tagebau Schleenhain. Vor einem Domino-Effekt hatte EnBW offenbar keine Angst.
Gerade am Beispiel des Reviers Halle/Leipzig zeigt sich, wie merkwürdig es um die angebliche "Verklammerung" von Kraftwerk und Tagebau bestellt ist. Auch mit dieser werden nämlich die Milliardenentschädigungen begründet, über die der Bund derzeit mit den Kraftwerkseignern im Rheinland und in der Lausitz pokert – aber eben nicht mit den Eignern und Betreibern im dritten, dem sogenannten mitteldeutschen Kohlerevier.
Selbst auf Nachfrage des SPD-Bundestagsabgeordneten Ulrich Freese, des parlamentarischen Oberlobbyisten der Braunkohle, konnte Verbandschef Diercks nicht erklären, warum es für das mitteldeutsche Revier keine ähnlichen Entschädigungsangebote und nicht einmal Gespräche dazu gibt.
Sind in diesem Revier Tagebaue und Kraftwerke nicht verklammert? Oder gilt diese Verklammerung nur, wenn der Eigner der Kraftwerke und der Tagebaue – wie RWE im Rheinland und Leag/EPH in der Lausitz – am Ende derselbe ist? Und die Verklammerung gilt nicht, wenn wie im Revier Halle/Leipzig die Betreiber- und Eigentümerstruktur diversifiziert ist?
Branche will Tagebaue vor "Klageindustrie" schützen
Zwar stotterte Verbandschef Diercks dazu in der Anhörung mehr oder weniger herum, das hinderte die Branche aber nicht, die Abgeordneten erneut mit der Story vom Tagebau, an den ein Kraftwerk nibelungentreu gekettet ist, erschrecken zu wollen.
Die aktuelle Variante geht in etwa so: Wenn das mit dem Ausstieg klappen soll, darf der Tagebau in seinem Betrieb auf keinen Fall von der "Klageindustrie", so tituliert sie der Braunkohleverband in seiner Stellungnahme, gestört werden. Den triftigen Grund dafür – Versorgungssicherheit, Beschäftigung, Erwirtschaftung von Renaturierungsmitteln – kann der Lobbyist frei wählen. Wichtig ist nur: Was braucht das Kraftwerk, um gut zu laufen? Richtig – Kohle aus einem Tagebau.
Ganz in dem Sinne erklärte Leag-Chef Helmar Rendez in einem Schreiben ans Bundeswirtschaftsministerium, über das die Welt rein zufällig genau am Tag der Anhörung berichtete, dass es bei den von seinem Unternehmen gefordertem Änderungen am Ausstiegsgesetz "allein um Rechtssicherheit" gehe, "damit der mühsam gefundene Ausstiegskompromiss nicht wieder infrage gestellt wird."
Alle Braunkohletagebaue, zitierte die Welt aus dem Schreiben, befänden sich in laufenden Genehmigungsverfahren und benötigten daher "ein Höchstmaß an Rechtssicherheit".
Übersetzt heißt das etwa: Liebe Leute, dass ihr den Kohleausstieg beschlossen habt, haben wir schon kapiert – aber bis dahin wollen wir freie Hand haben. Lasst uns in Ruhe mit Überprüfungen, ob man den Ausstieg nicht um etliche Jahre vorziehen kann, und vor allem stellt euren Widerstand ein, wenn wir Orte und Landschaften abbaggern müssen.
Für Umweltschützer stellt dies eine Art Blankoscheck dar. "Die Leag versucht, dem Gesetzgeber die Katze im Sack zu verkaufen", sagte René Schuster von der Grünen Liga. Das Unternehmen habe erklärt, seine Abbauplanung reduzieren zu müssen, wolle aber noch nicht verraten, "wo diese Kohle im Boden bleiben würde". Der Braunkohlebetreiber verlange jetzt offenbar vom Parlament, ein Konzept für notwendig zu erklären, das sich das Unternehmen erst im Anschluss aussucht.
Und weil man es inzwischen auch in den Ost-Kohleländern Brandenburg und Sachsen mit wankelmütigen Landesregierungen unter grüner Beteiligung zu tun hat, soll der rechtliche Blankoscheck nach dem Willen der Branche im Ausstiegsgesetz selbst ausgestellt werden. Jedenfalls soll auf Bundesebene, wie ein Leag-Sprecher gegenüber Klimareporter° bestätigte, die energiepolitische Notwendigkeit aller Braunkohletagebaue aus Gründen der Planungs- und Rechtssicherheit ausdrücklich anerkannt werden.
Getrickster Umgang mit Entschädigungen
Neben einem Vorziehen des Ausstiegs erschreckt ein anderes Problem die Braunkohlebranche: der zunehmende Druck gerade der Ost-Kohleländer auf die Unternehmen, damit diese genügend Gelder für die spätere Sanierung und Rekultivierung beiseitelegen und, wenn nötig, zur Vorsorge auch auf die zu erwartenden Milliarden-Entschädigungen zurückgreifen.
Für die Branche ist das offenbar eine erschreckende Vorstellung. In ihrer Stellungnahme zum Ausstiegsgesetz warnt sie: Sollten die Länder wegen der durch den Ausstieg notwendigen Anpassung der Revierkonzepte "zusätzliche Einzahlungen in die Vorsorgegesellschaften" verlangen, könne dies die Liquidität der Unternehmen gefährden.
Nun, man könnte den Kohleunternehmen hier entgegenhalten: Nicht wegen des Ausstiegs reichen die Sanierungsgelder nicht, sondern weil ihr schon seit Jahren – und lange geduldet von einer willfährigen Landespolitik – zu wenig dafür zurückgelegt habt. Aber gut, seien wir nicht kleinlich, es geht ja nur um Millionen.
Lesen wir dafür in der Stellungnahme weiter, wie sich die Braunkohle die vermuteten zusätzlichen Ausstiegskosten finanziert wünscht: In diesem Fall müssen, heißt es, "diese Einzahlungen unter Anrechnung auf die insgesamt anfallende Entschädigungssumme vom Bund zeitnah erstattet werden." Die Kohleunternehmen sagen also den Ländern schon einmal: Wenn ihr von uns wegen des Ausstiegs mehr Geld für die Sanierung wollt, dann sorgt dafür, dass der Bund die Entschädigungen entsprechend aufstockt.
Dabei geht das Ausstiegsgesetz bei den Entschädigungsgeldern schon jetzt sehr freundlich gerade mit der Lausitzer Leag um. Darauf machte Felix Matthes vom Öko-Institut in der Bundestagsanhörung aufmerksam. Wenn die Entschädigung zunächst als sogenannte "Sicherheitsleistung" für Renaturierung und Sanierung dient, könnte das Geld nämlich schon Jahre eher fließen, bevor der erste Kraftwerksblock vom Netz geht, sagte er.
Gerade bei der Lausitzer Leag können dieses Vorziehen der Sicherheitsleistung ein "Trick" sein, erklärte Matthes in der Anhörung wörtlich. Denn bei der Leag, begründete er, würden die "bergrechtlich genehmigten Tagebauvorräte nahezu vollständig ausgefördert".
In seiner Stellungnahme zum Gesetz rechnet Matthes vor, dass die Leag beim jetzigen Ausstiegspfad bis 2038 nur acht Prozent der in den derzeitigen Rahmenbetriebsplänen genehmigten Kohlemenge im Boden lassen muss. Die Leag selbst wollte die Angabe auf Nachfrage nicht kommentieren.
Wenn aber die Kohle fast vollständig abgebaut wird, müssten auch die Sicherheitsleistungen vorhanden sein, schloss der Energieexperte in der Anhörung und warnte: "Über den Trick der Sicherheitsleistungen darf es nicht dazu kommen, dass man fünf bis sieben Jahre vor der Stilllegung des ersten Kraftwerksblocks mit Entschädigungszahlungen beginnt."
Um es klarzustellen: Die Leag kann die Kohle wie ursprünglich geplant fördern und eigentlich auch die vorgeschriebenen Gelder zur Renaturierung beiseitelegen. Wenn sie nun aber vorgezogene Entschädigungszahlungen erhält und diese als "Sicherheitsleistungen" verbuchen kann, müssen diese Gelder später auch für Renaturierung ausgegeben werden – bis dahin kann die Leag aber ihre Unternehmensfinanzen mit den vorgezogenen Entschädigungszahlungen ordentlich schonen.
Für die Leag gehe es da "um jährlich 100 Millionen Euro Cash", bezifferte Matthes den Effekt, wenn Entschädigungen als "Sicherheitsleistungen" verbucht werden, die ansonsten aus dem Unternehmenserlös stammen. Auch wenn der Energieexperte betonte, dies sei bislang nur eine Möglichkeit und im Gesetz noch nicht so klar geregelt – über solche Folgen des Kleingedruckten darf man schon mal erschrocken sein.