Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrats erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Michael Müller, als SPD-Politiker bis 2009 Parlamentarischer Staatssekretär im Umweltministerium, heute Bundesvorsitzender der Naturfreunde Deutschlands.
Klimareporter°: Herr Müller, derzeit läuft das "System Change Camp" in Hamburg. 40 Gruppen rufen zu einem Systemwechsel und zum sofortigen Erdgasausstieg auf. Erstmals soll bei einer geplanten Massenaktion der Klimabewegung Sabotage in den Aktionskonsens aufgenommen worden sein. Kann die Klimabewegung so zu alter Stärke zurückfinden?
Michael Müller: Geschichtlich war die Umweltbewegung seit den 1970er Jahren lange Zeit aktionsorientiert und nicht unbedingt auch theorieorientiert. Eine Ausnahme waren die beiden Energiewendekonzepte und das Treibhausgasreduktions-Szenario von 1990.
Heute ist die Umweltbewegung in weiten Teilen eine "grüne Technokratie", hochspezialisiert, aber keine gesellschaftliche Reformbewegung. Ich sehe die immanente Schwäche darin, dass der Klimakrise, dem Ressourcenraubbau, der Überlastung der Ökosysteme, aber auch der wachsenden sozialen Ungleichheit keine konkrete Vision eines ganzheitlichen humanen Fortschritts entgegengestellt wird.
Das ist natürlich eine gewaltige Aufgabe, aber sie ist notwendig. Überhaupt muss sich die Umweltbewegung nicht am Möglichen, sondern am Notwendigen ausrichten. Und das ist die sozial-ökologische Gestaltung der Transformation. Wenn das die Klimabewegung macht, quasi "Das ökologische Manifest" schreibt, dann wird sie in unserer Zeit, die so sehr unter Theorielosigkeit leidet, zum Motor des Umbaus.
Das trockene, heiße Wetter soll sich die nächsten Tage fortsetzen. Schon jetzt ist in Deutschland eine hitzebedingte Übersterblichkeit zu beklagen, die mehrere tausend Menschen das Leben kostete, insbesondere Ältere. Versagt Deutschland jetzt auch bei der Klimaanpassung?
Das ist im Kern leider nichts Neues. Wir hatten auch schon 2003 eine starke Hitzewelle, bei der es im Juli und August vier Grad wärmer war als im Schnitt. Viele, vor allem ältere Menschen, starben. Aber daraus wurden keine Schlussfolgerungen gezogen.
Die Klimakrise ist im Bewusstsein der meisten Menschen, auch der meisten Politiker, noch weit weg, vor allem räumlich. Das ist ein Irrtum. Spätestens 2024 werden wir die troposphärische Treibhausgaskonzentration für eine Erderwärmung um 1,5 Grad haben. Danach kommen sehr bald die befürchteten Kipppunkte.
Die Klimakrise ist auch eine Verdrängungskrise. Aber es ist kein singuläres Versagen, es ist eine weit verbreitete Verantwortungslosigkeit. Auch weil ein Umdenken mit unbequemen Wahrheiten verbunden ist.
Obwohl eine verlängerte Laufzeit der letzten drei Atomkraftwerke den Gasbedarf um nur etwa ein Prozent senken würde, mehren sich die Zeichen, dass sich die Ampel zumindest auf einen sogenannten Streckbetrieb einigt. Könnten Sie sich damit auch anfreunden?
Auf keinen Fall. Ich kann den Teufel nicht mit dem Beelzebub bekämpfen.
Hier zeigt sich aber auch das Versagen der amputierten Energiewende. Das ursprüngliche Konzept war nicht allein die Förderung der erneuerbaren Energien, sondern ein Dreiklang, zu dem auch eine Effizienzrevolution sowie Einsparen und Suffizienz gehören.
Von Effizienz und Suffizienz wollen viele nichts hören, leider auch und gerade die Grünen nicht. Die Einweihung eines Windparks ist interessanter und schöner als die Verringerung des Energieverbrauchs.
Dabei wurde das höchste Einsparpotenzial immer wieder bei der Effizienzrevolution ermittelt. Aber die heute Verantwortlichen wie der zuständige Staatssekretär haben diese Fragen bestenfalls rudimentär behandelt. Das holt uns heute ein.
Unvereinbar ist eine Effizienzrevolution mit der Verbundwirtschaft, für die in besonderer Weise die Atomkraftwerke stehen. Sie blockieren die Energiewende. Deshalb nicht nur wegen der Gefahren, sondern auch aus Klimaschutzgründen: Nein zur Laufzeitverlängerung. Wer die Energiewende will, muss die Atomkraftwerke so schnell es geht abschalten.
Wegen der steigenden Energiekosten, die jetzt nach und nach bei den Haushalten ankommen und für viele nicht bezahlbar sein werden, sagen manche einen "heißen Herbst" voraus. Sehen Sie einen Ausweg, um diese Krise, die weite Bevölkerungsschichten erfasst, zu bewältigen?
Ja, was im Herbst auf die Klima- und Umweltbewegung zukommt, das wird hart. Aber auch sie muss sich von den Konzepten des neokonservativen Kapitalismus lösen.
Das Problem ist: Die Klimawende ist nicht ohne Konflikte zu haben, aber sie wird nur akzeptiert werden, wenn sie nicht zum Brandbeschleuniger für die Spaltung zwischen Arm und Reich wird – bei uns und weltweit. Die bisherigen Konzepte lassen zu viele Fragen offen.
Auch deshalb brauchen wir ein neues, "ökologisches Manifest", das gesellschaftliche Antworten für die sozial-ökologische Transformation gibt.
Und was war Ihre Überraschung der Woche?
Das dramatische Austrocknen der Loire in Frankreich. Die Bilder haben mich erschüttert, der Fluss ist nur noch ein dünnes Rinnsal. Solche Beispiele zeigen, dass alles viel schneller auf uns zukommen kann als erwartet.
Fragen: Jörg Staude