Windrad
Die Windbranche ist schwer beunruhigt – das warnende Beispiel vom Niedergang der deutschen Solarindustrie vor Augen. (Foto: Daniel Wehner/​Flickr)

Mitte August warnte Niedersachsens Energieminister Olaf Lies (SPD) – zusammen mit seinen Ressortkollegen aus fünf Kohle-Ländern – davor, vorzeitig aus der Kohle auszusteigen. Als Fan des fossilen Stoffs outet sich Lies in seinem Statement allerdings nicht, vielmehr plädiert der Niedersachse für eine "schnelle Verstärkung des Ausbaus der Windenergie".

Man darf berechtigterweise vermuten, dass Olaf Lies den heute auf der Messe Wind Energy Hamburg vorgestellten "Aufruf Windenergie" mit deutlich mehr Begeisterung unterstützt als das Kohleschreiben. Dem Vernehmen nach geht der "Aufruf" sogar auf seine Initiative zurück. Unterschrieben haben nicht nur die Energieminister von Bremen, Hamburg, Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein, sondern auch die norddeutschen Wirtschaftsminister, mehrere Branchenverbände sowie die IG Metall Küste.

Die Zahlen sprechen auch eine zu deutliche Sprache. Der Ausbau der Windkraft an Land wird von 5.300 Megawatt im vergangenen Jahr auf schätzungsweise 3.000 bis 3.500 Megawatt in diesem und nur noch 1.500 bis 2.000 Megawatt im kommenden Jahr einbrechen – insgesamt ein Rückgang um rund zwei Drittel. Die Zahlen stammen nicht aus dem Aufruf, sondern aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Grünen im Bundestag, die Klimareporter° vorliegt.

Und der Einbruch könnte, wie selbst die Bundesregierung zugibt, noch größer werden: Von den 2.800 Megawatt Windkraft an Land, die die Ausschreibungen für 2019 gewannen, sind etwa 90 Prozent an vorgebliche Bürgerenergieprojekte gegangen. Diese Anlagen werden "vermutlich erst in den Jahren 2020/​2021" in Betrieb gehen, schreibt die Regierung.

Forderungen im "Aufruf Windenergie"

1. Sonderausschreibungen zügig durchführen und Ausbaupfade definieren: Je 4.000 Megawatt Wind an Land und Photovoltaik sowie der vorgesehene Beitrag der Windenergie auf See sind zügig umzusetzen. ... Dabei sind sowohl die zusätzlich benötigten Strommengen für weitere Sektoren (Wärme und Verkehr) als auch der ab 2020 verstärkt stattfindende Rückbau beziehungsweise die Möglichkeiten zum Repowering zu berücksichtigen.

2. Windenergie an Land: Die Umsetzung des Ausbauziels von 65 Prozent erneuerbaren Energien bis 2030 erfordert eine deutliche Anhebung des Ausbaupfades für Windenergie an Land auf mindestens 4.000 Megawatt netto pro Jahr. ...

3. Windenergie auf See: Auch der weitere Ausbau der Offshore-Windenergie ist für die Umsetzung des Ausbauziels von 65 Prozent Erneuerbaren unverzichtbar. Der längerfristige Ausbaupfad bis zum Jahr 2030 ist daher von 15.000 auf mindestens 20.000 Megawatt anzuheben, bis 2035 auf mindestens 30.000 Megawatt. ...

4. Nicht realisierte Leistung nachholen: Bezuschlagte, aber nicht realisierte Ausbaumengen für Wind an Land und auf See sowie für Photovoltaik müssen umgehend erneut ausgeschrieben werden.

5. Stromnetze sind vorrangig auszubauen und zu optimieren/​modernisieren: Bundeswirtschaftsminister Altmaier hat mit dem "Aktionsplan Stromnetze" einen wichtigen Akzent gesetzt, dass die Stromnetze kurzfristig optimiert und ausgebaut und langfristig alle Möglichkeiten genutzt werden müssen, um eine Netzinfrastruktur zu schaffen, die einem künftigen, erhöhten Transportbedarf gerecht wird. Für die Zeit bis zur Fertigstellung der Netzausbauvorhaben müssen im Sinne der Akzeptanz bessere Regelungen für die Nutzung von erneuerbarer Energie anstelle der Abregelung geschaffen werden. ...

 (aus dem "Aufruf")

Sie scheint all das ziemlich ungerührt hinzunehmen. Denn auch die im Koalitionsvertrag vereinbarten Sonderausschreibungen für 2019 und 2020 – jeweils 4.000 Megawatt Wind an Land und Solar – lassen weiter auf sich warten. Bei diesen sei ein "Inkrafttreten Mitte 2019 möglich", teilt die Regierung in der Antwort vage mit. Wirtschaftsstaatssekretär Thomas Bareiß hatte allerdings schon Anfang September angekündigt, sein Haus wolle dem Bundestag in den kommenden Wochen ein Gesetz vorlegen.

Ob des offensichtlichen Stillstands ist die Branche für ihre Verhältnisse sichtlich in Aufruhr. Schon vor der Sommerpause habe man auf ein "starkes Signal" gehofft, nun aber müsse der harte, politisch verursachte Einschnitt beim Wind-Ausbau endlich korrigiert werden, fordert Hermann Albers, Präsident des Bundesverbandes Windenergie, gegenüber Klimareporter°. Angesichts drei- bis fünfjähriger Planungszeiten für die Branche wie auch für die Bundesländer, die die Flächen bereitstellen müssen, sei ein stabil hoher Windkraft-Zubau bis 2030 unabdingbar. Albers: "Wir dürfen nicht weitere wertvolle Zeit verlieren. Zum Jahresende braucht es Klarheit."

"Jobabbau hat begonnen"

Wie sich der Wind-Crash auf die Arbeitsplätze auswirkt, dazu macht die Regierung in ihrer Antwort übrigens keine Angaben. In dem "Aufruf" wird dagegen schon gezählt. Etwa 5.000 der 160.000 Arbeitsplätze der Branche seien bereits verloren gegangen oder akut gefährdet. Das zeigten jüngste Meldungen von Anlagenherstellern und der Zulieferindustrie. Im Wirtschaftsministerium will man diese nicht kennen: "Der Bundesregierung liegen keine näheren Informationen über künftige einzelbetriebswirtschaftliche Arbeitsplatzentscheidungen der Unternehmen vor", steht wortwörtlich zu lesen.

"Während Windenergie international zu den innovativen und umweltfreundlichen Wachstumsbranchen zählt, gefährdet die Politik von Union und SPD hierzulande massiv die Windindustrie", kritisiert die Grünen-Abgeordnete Julia Verlinden – völlig zu recht.

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